Der Charme von Brest
Jürgen Reip aus Jochen Schmidts Erzählungsband „Triumphgemüse“ hat in diesem Roman einen neuen Namen bekommen. Er heißt jetzt Jochen Schmitt. Dieser erzählt hier zwar aus der Ich-Perspektive, ansonsten ist er aber der alte geblieben. Auch Jochen, der sein Leben in den 90er Jahren erzählt, ist Fan von Heiner Müller, ein etwas seltsamer Verehrer der Frauen und jemand, der selber schreibt. Er ist zwar ein bisschen trottelig, aber nicht so närrisch, dass er wie Don Quichotte über allem eine Dulcinea-Note erklingen ließe. Nicht dass er cool wäre – Jochen kommt aus Ostberlin –, aber er lässt sich durch nichts erschüttern. Eigentlich rechnet er immer schon mit dem, was kommt, und es kommt meist hart. Allein dass er das erzählen kann und wie er das macht, zeigt, dass der skurrile Humor, der seine Beobachtungen mal mehr, mal weniger durchzieht, nichts mit larmoyanter Vergangenheitsbewältigung eines benachteiligten Deutschen zu tun hat. Weiß man doch auch heute noch nicht so genau, was einen genau krank macht. Der Prolog, der zeitlich ans Ende des Romans gehört, zeigt einen von Peripherer Facialis Parese gezeichneten Jochen Schmitt. Es sieht so aus, als ob er die ganze Zeit grinsen würde, denn eine Seite seines Gesichts ist gelähmt. Über die Gesundung erfahren wir nichts, denn der eigentliche Roman beginnt lange vor diesem Krankheitsausbruch, aber natürlich ist der Leser gehalten, alles, was passieren wird, in Hinblick auf diese Krankheit zu lesen. Das Schöne nun ist, dass man im Laufe der Zeit des Lesens die Erblast der Hypochondrie vergisst. Oder anders herum, das hypochondrisch organisierte Leben des Ich-Erzählers wird so konsequent geschildert, dass die durchaus mitverschuldete Härte des Lebens beinah schon wie ein Schicksal aussieht, von dem als Jochen-Schmitt-System sich zugleich wunderbar erzählen lässt. Und das kann der andere Jochen ziemlich gut, auch wenn einen nicht alles gleichermaßen interessiert und einen das Frauen-Problem nicht mehr sonderlich aus dem Häuschen lockt. Aber es geht halt mal nicht um Marken, sondern genau um den Arsch der Welt, der heute einen ziemlich großen Teil der Welt ausmacht. Die Bewohner der Stadt Brest mögen das verzeihen, aber wenn sogar New York, das von Jochen Schmitt ebenfalls aufgesucht wird, zu diesem reputationell wenig anerkannten Bereich gehört, dann kann man am Ende schon verstehen, dass es dem einen die Sprache verschlägt und dem anderen ein halbes Gesicht zum Stehen bringt. Und ist es dann ein Zufall, wenn dieser Roman so aufhört wie Shaws Stück „Pygmalion“, nämlich mit einem diebischen Grinsen dort, mit einem sarkastischen Kichern hier? Irgendeine gewünschte Verwandlung hat nicht stattgefunden. Etwas blieb so, wie es immer schon – wie lange? – war, und das man nur noch in seinem Ablauf perfektionierte. Irgendwann sagt einem dann der Körper, oder das Verhalten anderer, dass es das nicht war. Das kann man dann aufschreiben, andere lesen es, aber vielleicht ist das genau so krank wie das, von man da liest. Na ja, die alten Geschichten halt.
Dieter Wenk (09.02)
Jochen Schmidt, Müller haut uns raus. Roman, München 2002 (C.H. Beck)