Solipsismus im Bild
Deutschsprachige Comics (oder genauer, aber uneleganter: Comics aus deutschsprachigen Ländern) haben zurzeit Aufwind. Nach Jahrzehnten haben die Tageszeitungen und Magazine entdeckt, dass Comics ja nicht unbedingt "lustige Taschenbücher" bedeuten, sondern, als Formen "grafischen Erzählens", einen Spagat hinlegen, der par excellence das einfordert, was Leslie Fiedler in den 60ern mit dem Schlachtruf "Cross the Broder – Close the Gap!" forderte: einen Spagat zwischen Text und Bild, High und Low. Höchst anspruchsvolle narrative Muster werden mit Bildern verbunden, die von Kinderkritzeleien bis zu höchster Kunst reichen können. Die Universitäten sind – Hamburg ist da auch weltweit eine Ausnahme – noch immer nicht wirklich auf dieses Phänomen, das eigentlich sämtliche Diskurse der vergangenen Jahre bedient und insofern auch eine schöne Spielwiese für theorieverliebte Wissenschaftler bieten würde, aufmerksam geworden. Damit das geschieht, braucht es dann schon einen Comic wie "Maus", dem man sich über das beliebte Thema „Holocaust“ nähern kann. Aber Meisterwerke wie die Bücher Chris Wares, Dan Clowes, Lewis Trondheims oder hier zu Lande Anke Feuchtenbergers? Fehlanzeige.
Diese Renaissance des künstlerisch anspruchsvollen Comics, dessen Auftreten seit den 80er Jahren nur unzureichend mit dem Begriff "graphic novel" umschrieben wird, weckt Hoffnung, dass sich vor allem im Comic-Entwicklungsland Deutschland einiges ändert. An der Anthologie "Flitter 01: Kleiner als das Leben, größer als die Realität – neue deutschsprachige Comic-Erzähler", die wie ihr US-amerikanisches Pendant "Mome" regelmäßig Originalbeiträge oder Erstveröffentlichungen und damit neueste Entwicklungen präsentieren will, zeigt sich nun das gesamte Potenzial wie auch die Problematik der jungen Generation von Comiczeichnern. Zweidrittel der elf Beiträge in der Anthologie sind im weitesten Sinne der Autobiografie zuzuordnen, dem Genre also, mit dem der Comic momentan seine größten Erfolge feiert (man denke nur an "Persepolis", "Barfuß in Hiroshima" oder "Blankets"). Nur: Damit derartige Autobiografien nicht zum bloßen bildgewordenen Solipsismus werden, braucht es eben mehr als bloße Coming-of-Age-Befindlichkeitsstatements (siehe die oben genannten Beispiele). Mag der Comic-Künstler an sich zum Nerdtum und dadurch zur Melancholie neigen, kann sich dies in wundervollen Verarbeitungen wie Wares "Jimmy Corrigan" oder "Rusty Brown" niederschlagen – diese Bücher bieten freilich mehr als die bloße Darstellung von Charakteren: Sie probieren neue narrative Formen aus. Geballt sowie ohne Brechung wird die Larmoyanz und die Ähnlichkeit der Figuren aber ärgerlich: Bei allem Potenzial der Künstler und geglückten Passagen sind "Kalte Luft" von Arne Bellstorf oder "Poltergeist" von Line Hoven – von den autobiografischen Beiträgen der Anthologie die geglücktesten – für dieses Problem exemplarisch: stilistisch brillant, wenn auch in Bellstorfs Fall stark an US-amerikanischen Vorbildern orientiert, erzählerisch dem Stil Carvers ähnlich, elliptisch, eine Atmosphäre des Weltschmerzes verbreitend. Nur: Wenn das manifestartige Vorwort des Bandes das Erzählen – im Unterschied zum Anschauen, das für die erste Generation der künstlerisch anspruchsvollen Comics in Deutschland in den 90ern geltend gemacht wird – der Comics hervorhebt – wo bleibt das erzählerische (und zeichnerische) Experiment? Wo ist die Lust, sich auch einmal an etwas anderem als an den immer gleichen und letztlich banalen Problemen Heranwachsender auszuprobieren – die übrigens, wie ein Blick in die erste "Mome"-Anthologie und die Beiträge dort von Paul Hornschemeier oder Anders Nilsen beweist, auch z. B. Möglichkeiten nicht-linearen Erzählens böte?
Auch wenn die meisten anderen Beiträge in "Flitter 01" besonders auf sprachlicher Ebene nicht immer ganz überzeugen können – es gibt in "Flitter 01" zwei Beiträge, die aufzeigen, zu welchen Höhenflügen Comics hier zu Lande fähig sind: Dirk Schwiegers Kurz-Reportage über Elfen in Island, "Poeple not seen", die verschiedene Sprach- und Zeichenstile vorführt, und Sascha Hommers höchst beklemmender Kurz-Comic "Das neue Heim", der zeichnerisch und erzählerisch eigene Wege geht.
So ist die erste Ausgabe von "Flitter 01" neben dem Hamburger Magazin "Orang" ein hervorragender Einstieg für alle, die mehr über die neue aktuelle Comic-Szene in Deutschland, Österreich und der Schweiz erfahren wollen. Darüber hinaus ist "Flitter" aber vor allem ein Versprechen: Das Experiment Comic geht weiter.
Thomas von Steinaecker
Kai Pfeiffer (Hrsg.): Flitter 01: Kleiner als das Leben, größer als die Realität. Neue deutschsprachige Comic-Erzähler, 144 S., Avant-Verlag, Berlin