Für ein gutes Gedächtnis
Die Einstellung ist so kurz, dass man es fast gar nicht merkt. Zitatspender für Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“, dieser seltsame Tanz in dem Restaurant, wo Uma Thurman und John Travolta mit dem Handrücken zu den Augen die Arme zur Seite schieben. Das führt hier, allerdings ohne Tanz, Anna Karina vor, eine jener Kurzgesten, die beim ersten Sehen des Films völlig untergehen. Oder auch: Wie kommt eigentlich Lemmy Caution zu Anfang des Films in das Hotel hinein, genauer gesagt die ihn filmende Kamera, denn die macht eine jener merkwürdigen Umdrehungen, wie man sie später in manchen Fassbinder-Filmen sehen wird. Man vergisst sehr schnell, dass sehr viel Bewegung in diesem Film steckt. Allein die Desorientierungen, nachdem Lemmy und die Hostess das Hotelzimmer betreten haben. Dann kommt auch noch dieser Dritte, der für Unruhe stiften soll und dafür gleich vom Helden zusammengeschossen wird. Zumindest was die ersten Minuten des Films betrifft, ist es die Musik, die den Kontrabass setzt. Musikalisch ist Godard wunderbar konservativ. Nicht nur, weil er Debussy einspielt, sondern weil er ein untrügliches Gespür dafür hat, in welchen Situationen was gespielt werden muss. Jedenfalls solange Godard noch richtige Spielfilme gedreht hat, also bis etwa 1965. Es gibt kaum einen Godard, der einen so schnell einsaugt. Und der einem Gelegenheit gibt, über den anfänglich aus dem Off geäußerten Satz nachzudenken, wo es gut rilkianisch heißt, dass die Realität aus so vielen Schichten besteht, dass man sprachlich gar nicht nachkommt. Natürlich auch die Filmrealität. Man genießt die Szenen, wie lange sie auch immer sein mögen. Für Psychologie ist nicht viel Platz. Warum dreht Herr von Braun, der mächtige Mann mit dieser großartigen Brille, so oft den Kopf herum? Ohne dass er es weiß, ist er schon selbst der Popstar, dessen Existenz er in seinem Staat verbieten würde. In Alphaville ist zwar so ziemlich alles wiedererkennbar, aber das meiste läuft als leere Geste durch den Korridor. Es ist, als ob Godards Hast diese Gesten verfolgen würde, um sie zu stellen. Ein anderes Mittel dazu sind Lemmy Cautions Fragen, die die gespenstischen Gestalten aus dem Rhythmus bringen, wenn sie das überhaupt noch zulassen wie Natascha von Braun im Gegensatz zu den Hostessen, die komplett ferngesteuert wirken. Die Rahmengeschichte von „Alphaville“ ist beinah zu vernachlässigen. Ein als Journalist getarnter Spion, der von Braun dazu überreden soll, die Seite, sprich: den Staat, zu wechseln. Aber was will man eigentlich dort von von Braun, der nichts anderes kann als technizistische Bibeln in die tumben Köpfe zu treiben. Deshalb ist es auch nur konsequent, wenn Lemmy am Ende mit der Tochter vorlieb nimmt, mit der er auch viel besser über Gedichte sprechen kann, denn sie ist noch nicht so verdorben, dass sie sich nicht an ihre menschlichen Anfänge in Nueva York erinnern kann. Lemmy Caution ist zwar ein Spion, aber kein Zyniker. Er ist der Humanismus in Person. Kein anderer wie er hätte die „Hauptstadt des Schmerzes“ so mutig betreten können. Er ist reich belohnt, beim Verlassen.
Dieter Wenk (08.06)
Jean-Luc Godard, Lemmy Caution gegen Alpha 60 (Alphaville), F/I 1965, Eddie Constantine, Anna Karina