1. Oktober 2006

Chargen im Agentenanzug

 

Ein als autobiografisch etikettierter Roman eines Mitglieds von „Oulipo“ ist wohl mit besonderer Vorsicht zu genießen, was das Autobiografische angeht. Denn Oulipo steht für „Werkstatt für potentielle Literatur“, in Paris 1960 von Raymond Queneau und anderen mit der Absicht gegründet, die Literatur mit einem zugleich sinnlosen und verschärften Regelwerk auszustatten. Hier ging also kurz vor Entstehen der Postmoderne noch einmal nicht „alles“. Die Regeln erfand jeder Autor für sich. Der auch in Mathews Roman auftauchende Georges Perec schrieb etwa einen Roman, ohne ein einziges Mal den Buchstaben e zu verwenden. In linken Kreisen wurde Oulipo denn auch als bloßer „Formalismus“ gebrandmarkt. Der Amerikaner Harry Mathews war das erste nicht-französische Mitglied dieser Organisation. Der Untertitel des 2005 im amerikanischen Original erschienenen Romans „My Life in CIA“ heißt „Eine Chronik des Jahres 1973“. Das Schöne bei experimentellen Texten ist, dass man sofort erkennt, um was es den Autoren geht. Bei Perec etwa die Erhöhung des Schwierigkeitsgrades beim Hinschreiben von Wörtern, weil ein Buchstabe nicht mehr zur Verfügung steht. Bei Mathews könnte man sich folgende Regel als Ausgangspunkt des Schreibens denken: Erfinde eine Situation für eine Romanfigur, der ein Ruf vorausgeht, der durch ein Gerücht zustande kam. Entwickle den Roman so, dass die Romanfigur diesen Ruf positiv wendet, die Zuschreibung also annimmt. Lass den Roman so enden, dass sich eine „Zauberlehrlings“-Situation ergibt, die Hauptfigur also (beinah) von der bewussten Übernahmetaktik der Fremdzuschreibung überrollt wird. Das Schöne wiederum an diesem Roman ist, dass Mathews völlig offen lässt, ob „Mein Leben als CIA“ als oulipistischer Roman gelesen werden soll oder nicht. Die Konstruktionsregel läuft gewissermaßen im Kopf mit oder baut sich beim Lesen auf, und zwar genau in dem Maße, wie der Held, Harry Mathews, sich für ein neues Leben entscheidet. Der Ich-Erzähler Mathews, der 1973 schon längere Zeit in Frankreich lebt, findet sich in Paris irgendwann mit der Tatsache konfrontiert, dass man ihn als Amerikaner für einen CIA-Agenten hält. Ob diese Leute nun XYZ oder Philippe Sollers heißen, er bittet sie, mit dem Unfug aufzuhören. Das klappt natürlich nicht. Ein Gerücht lässt sich nicht abstellen, ebenso wenig wie sich ein Agent „de-rekrutieren“ lässt, wie es so treffend bei Mathews heißt. Freunde des Erzählers bewegen diesen dazu, das „Spiel“ anzunehmen. Mathews erfindet sich also eine neue Identität, indem er so tut, als ob er wirklich CIA wäre. Gleich am Anfang muss der Leser eine mittelgroße Konstruktionsklippe überspringen. Denn ein CIA-Agent hat normalerweise einen Job, etwa als Diplomat, der die Fassade aufbaut, in dessen Rücken der Agent agiert. Mathews als Schriftsteller hat keinen in diesem Milieu anerkannten Job, sollte also erst mal gar nicht in den Genuss kommen dürfen, als CIA verwechselt zu werden. Erst die falsche Identität eines Leiters eines Reisebüros gibt Mathews also die erwünschte Position, „korrekt“ als CIA identifiziert zu werden. Mit diesem spielerischen Einsatz verlässt er aber zugleich die bloße Ebene des Spiels, wie er bald feststellen muss. Welche von seinen Freunden sind echt, welche falsch? Der Leser weiß nicht mehr als der Erzähler, dessen Naivität zugleich berührt als auch befremdet. Mathews macht irgendwie alles mit, sei es distanzierten Yoga-Sex oder undurchsichtige Freundschaftsdienste. Er ist ein Blender (manchmal auf sehr niedrigem Niveau, aber der Wille, geblendet zu werden, ist nun mal sehr groß), und natürlich wird er geblendet, ohne dass er das merkt, aber irgendwo wird schon das Dossier seiner Fehler und Fettnäpfchenkontakte geschnürt, das ihm später unter die Nase gehalten wird und er plötzlich merkt, dass ein Roman, der in der Wirklichkeit geschrieben wird, anders funktioniert als einer, der strikt die Grenzen des Buchdeckels respektiert. Ganz avantgardistisch machen sich Leben und Werk anheischig, eine allerdings unglückliche Ehe einzugehen, die droht, auch gleich wieder geschieden zu werden, da die Wege doch zu verschieden sind. Geht es gut aus? Geht es überhaupt aus? Hat es angefangen? Der Leser ist gut beraten, das oulipistische Konstruktionselement im Kopf zu haben, ansonsten wird er vielleicht ungehalten und dem Roman vorwerfen, zu sehr als Bericht verfasst zu sein. Denn richtig spannend ist diese Geschichte nicht. Dazu finden zu wenig Umpolungen statt. Das ist das Risiko der Installation eines Ich-Erzählers. Er weiß nicht, was er anstellt. Die Augen müssen ihm (und dem Leser) von anderen geöffnet werden. Genau an dieser Stelle kommt aber das Reißbrett-mäßige des Romans zu Tage. Wer das oulipistisch verbuchen kann, wird trotzdem oder gerade deshalb seinen Spaß haben.

 

Dieter Wenk (08.06)

 

Harry Mathews, Mein Leben als CIA. Eine Chronik des Jahres 1973. Autobiografischer Roman, aus dem Amerikanischen von Michael Mundhenk, Basel/Weil am Rhein 2006 (Urs Engeler Editor)