18. September 2006

Unerledigte Schreibaufgaben

 

Wer ist dieser „Jener“, von dem in Blanchots Titel die Rede ist? In dem Satz, in dem das Syntagma des Titels dieser Erzählung aufgegriffen ist oder das umgekehrt der Erzählung nachträglich zu ihrem Titel verholfen hat, wird „Jener“ als Gefährte bezeichnet. Gefährte des Icherzählers. Dieser seltsame Gefährte ist manchmal da, manchmal auch nicht. Er ist derjenige, der (nicht im telefonischen Sinn) angerufen wird und der antwortet, was bisweilen sehr lange dauert, wie von einem fernen Ort aus. Der Gefährte wird nicht näher beschrieben, wie er aussieht, was er trägt, aber auch der Icherzähler bleibt „materiell“ beinah ebenso unbestimmt und fast körperlos, obwohl er doch in einem nicht näher bestimmten Haus lebt, allein, vermutlich schon sehr lange. Manchmal kommt es zu einer Art Dialog zwischen dem Erzähler und dem fast echohaften Gefährten. „Jener“ bleibt dabei immer auf der Spur des von seinem „Gegenüber“ Gesagten. Er ist nicht initiativ. Die Dialogpartien sind das Einfachste dieser Erzählung, die keine Erzählung im traditionellen Sinn ist: kurze Sätze, Versuche der Vergewisserung, manchmal auch Provokationen des Erzählers durch den Gefährten, der immer wieder wissen will, ob der Erzähler schreibt, „jetzt in diesem Augenblick“. Wie banal, bürokratisch der Gefährte auch oft ist, so zielt er mit dieser Frage des Schreibens irgendwie ins Zentrum dessen, was den Erzähler umtreibt. Und vielleicht weiß „Jener“ mindestens ebenso gut Bescheid über die unüberwindlichen Schwierigkeiten, „jetzt“ zu schreiben? In einer späteren Textstelle wird diese Vermutung bestätigt. Der Dialog braucht den häuslichen Raum gar nicht, um stimmlich überbrückt zu werden. Dies ist ein Gespenstergespräch, und wer lesend an ihm teilnimmt, muss sich darauf gefasst machen, in einen Raum hineingeführt zu werden, der dem von herkömmlichen Erzählungskontinua kaum noch gleicht. Der Dialog ist aber dezidiert kein Selbstgespräch. Dazu ist „Jener“ zu weit weg, unverfügbar, eben nicht begleitend. Wenn es bei Kant hieß, dass die Vorstellung „Ich denke“ „alle anderen muss begleiten können“, dann gehört der Gefährte nicht in den organisierenden Raum des Bewusstseins. Der Gefährte ist weniger der blinde Fleck als die Aufgabe des Erzählers. An einem wunden Punkt sind sie miteinander verbunden, und dieser Punkt ist das Schreiben. Der Gefährte ist die Stelle, die immer wieder nach der ungelösten und unlösbaren Aufgabe fragt. Diese Stelle ist aber nicht der Ort des Wissens, denn dieser Ort wäre ganz einfach das Absolute selbst, in dem das Geschriebene von sich selbst erlöst wäre und in dem Augenblick aufginge, von dem es sprechen wollte. Das macht Blanchots Prosa ja zunächst so verstiegen. Alle gängigen Erzählnormen sind in Klammer gesetzt. Raum, Zeit, Figuren wie aufgehoben. Manche Sätze lesen sich wie in sich selbst zurücklaufende Spiralen. Die Logik von Gegensätzen scheint hier anders zu funktionieren. Permanent werden sie mystisch in das meditierende Erzählerich eingeschlossen. Jedes Ende ist nur scheinbar und führt an den Anfang zurück, den das Ich sich freiwillig gewählt hat, um seiner Aufgabe nachzukommen, von der es doch weiß, dass es nie anders darüber wird sprechen können als in Modi des Ungefähren, Unplastischen, Unvorstellbaren. Die Richtung, die das Ich eingeschlagen hat, ist unwiderruflich, es ist die des immer wieder aufgeschobenen Schreibens, wovon der Leser aber natürlich für die Dauer der Erzählung liest und dabei lernt, für die Zeit der Lektüre sich in diesem Spalt aufzuhalten zwischen dem Unsagbaren, worin das Schreiben sein Ende finden würde, und der kleinen Welt, in der ein Ich sich selbst noch nicht einmal zu begleiten vermag. Es gibt ganz wunderbare Passagen in diesem Buch, die die angebliche Selbstreflexivität bei Blanchot Lügen strafen und fast schmerzlich mitteilen, dass es sehr wohl etwas gibt, das sich außerhalb des „Textes“ bewegt, ohne das ein Text nur ein Unfug wäre. Blanchot ist ein ganz eigener Phänomenologe, der sich auf seine Art auf die Suche nach den „Dingen“ begibt. Dass diese Dinge nicht die Gestalt von Küchengerät haben, ist nicht Blanchots Schuld. Und dass sein Schreiben manchmal ins rein Textuelle abzurutschen droht oder sich dort auch ein bisschen zu gefallen scheint, gehört zum Risiko dieses Autors, dem vermutlich nichts wichtiger war, als nicht mit anderen verwechselt zu werden. Mit der fragilsten Stelle seiner selbst, eben jenem, der einen nicht begleitet, kann man keinen Pakt schließen. Von der Unmöglichkeit, es dennoch zu versuchen, handelt dieses Buch.

 

Dieter Wenk (09.06)

 

Maurice Blanchot, Jener, der mich nicht begleitete. Erzählung, übersetzt von Jürg Laederach, Basel/Weil am Rhein 2006 (Urs Engeler Editor)