12. September 2006

Matrosen- und andere Romantik

 

Fast will es scheinen, als sei es vor 50 Jahren riskanter als heute gewesen, Geschichten mit einem richtigem Abschluss, vielleicht sogar mit romantischem Anstrich zu publizieren. Damals war der Fortschrittspfeil des Literarischen noch nicht angefressen, im Gegenteil, verschiedene Richtungen versuchten zu zeigen, wie sich einzig noch schreiben lasse und worin die „Fehler“ im meist unbewussten Konzept der anderen bestünden. Die schikanöse Schule des „Nouveau Roman“ verbat sich jede Form von unreflektierter Konvention, allen voran machte Alain Robbe-Grillet Jagd auf Anthropomorphismen und Metaphernbildungen aus den Schreckenskammern der Poesiealben. Die bekanntesten und erfolgreichsten Gegner waren ihm gerade recht: Camus, Sartre. Keine Frage, dass auch der schmale Erzählungsband „Der verliebte Gefangene“ des damals, 1958, noch völlig unbekannten Niederländers Cees Nooteboom keine Gnade gefunden hätte. Ein Beispiel aus der Titelgeschichte: „Die Nacht hatte die Sonne und den Tag besiegt, und Kühle fächelte aus der schwarzen Landschaft des Flusses heran. Bleich und kalt stand der Mond, einsam und hochmütig zwischen den Sternen.“ Wie man sieht, trat Nooteboom nicht an, um die Literatur neu zu erfinden. Einem wie ihm, der in den 50er Jahren als Leichtmatrose anheuerte, ging es wohl viel eher darum, Geschichten zu erleben oder möglichst viele erzählt zu bekommen. „Du wolltest doch Romantik“, sagt ein Gefährte in der Erzählung „Der Matrose ohne Lippen“ zum Erzähler, „dafür hast du bezahlt. All die Idioten, die von Zeit zu Zeit auf einem unserer dämlichen Frachtschiffe mitfahren, wollen Seemannsromantik. Aber die gibt es nicht.“ Der Leser muss auf das Dementi des letzten Satzes nicht erst warten, er weiß es schon besser, es gibt sie, die Romantik, ob mit oder ohne Seefahrer, zwischen den Buchdeckeln dieses Bandes. Und man wird süchtig nach ihr, vorausgesetzt, man lässt die dogmatische Brille Robbe-Grillets und all der anderen im Etui. Denn natürlich will man wissen, wie jener Matrose seine Lippen verlor und warum man vorsichtig sein sollte, wenn man Frauen küsst. Oder weshalb das „Kameraauge“ des scheinbar neutralen Berichts nicht unbedingt verwechselt werden sollte mit dem grausamen Auge leiblicher Personen, die genau das wahr machen, von dem jenes kündet („Pozuelo de Alarcón“). Fast jede Geschichte handelt von brutalen Spielen, die Menschen, seien sie Kinder oder Erwachsene, anderen antun. Und meistens bringt das Böse den Tätern kein Glück. Aber die Gerechtigkeit ist nicht ausgleichend, sondern meist ein dummer Zufall. Nooteboom ist kein Moralist. Er will die Pointe, und sie ist niemals aufgesetzt. Großartig irritierend ist sie in „Hula“, mit zweieinhalb Seiten die kürzeste Geschichte. Ein kleiner Junge ist mit seinen Eltern bei Verwandten eingeladen. Die Älteren sind auf ihre primären Sinnesreize, Parfüm, Zigarrenrauch, Stimmen, reduziert, fast abstrahiert. Dann gibt es noch den kleinen Cousin Arthur. Der spielt mit seinem Auto vor dem Teich. Arthur „ist“ das Auto. Arthurs Cousin kennt den Unterschied nicht so richtig. Jedenfalls versinkt das „Auto“ im Teich. Was das bedeutet, wird dem Cousin erst sehr viel später in seinem Leben klar. Aber was der Cousin bei Arthurs Versinken dachte, wird ganz zum Schluss gesagt. Es ist völlig irre. Aber man versteht es ausgezeichnet. Die einzige Geschichte, die etwas aus dem Rahmen fällt, ist „Phantasma“, die jüngeren Datums ist und eigentlich ein Rätsel darstellt. Sie wirkt sehr symbolistisch, wie die Notation eines Alptraums, und erinnert entfernt an eine Geschichte aus Remy de Gourmonts „Pilger des Schweigens“. In einem kurzen Nachwort nimmt der Autor Stellung zu seinen frühen Erzählungen. Glücklicherweise erkennt er sie wieder als seine. Auch wenn er sich heute tatsächlich sehr anders liest.

 

Dieter Wenk (08.06)

 

Cees Nooteboom, Der verliebte Gefangene. Tropische Erzählungen, aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen, Frankfurt am Main 2006 (Suhrkamp)

 

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