10. August 2006

Hilferufe im Adorno-Hörsaal

 

Wie ging das gleich noch mal? Poetikvorlesungen? Jemand spricht über sein Werk, vermutlich Gedichte, Hörer und Leser bekommen ein schlechtes Gewissen, weil sie schon wieder vergessen haben oder noch nie wussten, was ein Hexameter ist. Am Ende weiß man vielleicht etwas besser Bescheid über das, was der Vortragende sagen wollte mit seiner Poesie, aber was hat das mit den Gedichten zu tun? Robert Menasse macht etwas ganz anderes. Er präsentiert kein Werk, sondern spricht von einem Zustand. Nein, dem Zustand. Robert Menasse ist nämlich größenwahnsinnig. Deshalb ist er ja auch Dichter. Dichter dran. Es steht schlecht um die Welt, so Menasse. Die angeblich so freizügige, liberale, leistungsbezogene Welt, deren federführender und Bilder spendender Teil sich so gerne als demokratisch ausgibt, ist in Wirklichkeit ein Verhängnis, dessen angebliche Schicksalhaftigkeit als Anpassungserfordernis an den Lauf der Dinge apostrophiert wird. Robert Menasses Poetikvorlesung ist also in Wirklichkeit eine Globalisierungskritik. Nicht die Menschen stünden mehr im Vordergrund mit ihrem je eigenen Gesetz, sondern die Verhältnisse, in denen sie leben. Und diese Verhältnisse sind in erster Linie ökonomischer Natur. Der Held unserer Zeit ist aber kein Börsenmakler, sondern das Kapital selbst. Diese Welt, in der sich alles um die Wirtschaft dreht (adieu, Systemtheorie), schluckt alle Alternativen. Sie richtet die Welt nach ihrem Bilde aus – in Bildern. Diese Welt denkt nicht, sie vollzieht sich. Wie bringt man aber die Leute wieder zum Denken? Nicht alle waren ja im Frühjahr 2005 in Frankfurt im Adorno-Hörsaal. Menasses geistige Heimat ist die große Zeit des Bildungsgedankens. Er setzt Bildung gegen Bilder, die nur stumpf machen (schnelles Adieu, Bildwissenschaft). Gegen die äußerliche Verbreitung von Bildern und ihre bisweilen extreme Wiederholung (Beispiel, Flugzeuge fliegen in Hochhäuser) kann man nur innerlich, nämlich dezisionistisch angehen: durch Absetzung. Man lege dazu die Bilder wie in einem inneren Archiv ab und rufe sie selbstständig ab, nämlich dann, wenn man sie selbst braucht und nicht, wenn der andere (das Kapital) das will. Der Gläubigkeit in die angebliche Alternativlosigkeit der Welt stellt Menasse eine andere Gläubigkeit entgegen, nämlich die Substanzhaltigkeit von Begriffen, allen voran Freiheit und Vernunft. Das ist leider die schwache Stelle von Menasses Vorträgen. Unter der Hand gerät ihm der kritische Blick auf die Welt ebenso alternativlos als diese selbst. Menasse möchte die selbst denkenden Leute zu einem gemeinsamen Blick auf die Welt vereinigen. Und in einer gemeinsamen Begriffsanstrengung würden dann Begriff und Realität immer identischer. Ja, Hegel. Keine Frage, dass Hegel ein großer Dichter ist. Aber sind wir über das Entsprechungstheoretische nicht schon ein bisschen hinaus? Menasse hat die Tendenz, vieles über einen Kamm zu scheren. Descartes als erster engagierter Autor? Was macht Menasse mit den Schriftstellern, die dezidiert nicht engagiert sein wollen? Und leben wir wirklich in einer „Unzeit“? Man weiß eigentlich nicht, was das sein soll. Menasses Frage ist: Wollt ihr die totale Freiheit? Angeblich hat man ihn stürmisch bejubelt, im Frühjahr 2005 im Adorno-Vorlesungssaal. Wir müssen alle zu vernünftigen Heimarbeitern werden. Dass am Ende sich die Myriaden Heimatfronten aufheben zu einer Weltgesellschaft, in der jeder Unternehmer seiner selbst sei.

 

Dieter Wenk (08.06)

 

Robert Menasse, Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt 2006 (Suhrkamp)

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon