24. Juli 2006

„Pillen gegen das souveräne Volk“

 

Während so mancher Frühromantiker, etwa Tieck, in Sachen Zeitflucht den Spätromantikern in nichts nachstand, das Biedermeier auf Genauigkeit gerne den Stumpfsinn folgen ließ, versuchte eine Handvoll Schriftsteller in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts, mit Literatur etwas Sand ins Getriebe des Obrigkeitsstaats zu streuen. Man nannte sie die „Jungdeutschen“, und zu ihnen zählten neben Karl Gutzkow, Friedrich Freiligrath und Heinrich Laube eben auch Georg Weerth, dessen „Skizzen“ aus den Jahren 1845-48 in verschiedenen Zeitschriften erschienen, ein Drittel blieb aus politischen Gründen lange ungedruckt. Die ersten vier der 14 Kapitel erschienen 1847/48 in der „Kölnischen Zeitung“, für den heutigen Leser ist die Vorlage, die Weerth mit großer Wahrscheinlichkeit benutzt und parodistisch verwertet hat, nicht mehr erkennbar, es handelt sich um das 1843/44 von Friedrich Noback verfasste Lehrbuch „Der Kaufmann als Lehrling, Commis und Prinzipal“, in dem sich schon die einzelnen Weerth’schen Kapitelüberschriften vorformuliert finden, z.B. „Der Lehrling“, „Der Buchhalter“, „Der Reisende“ etc. In diesen Anfangskapiteln verstreut Weerth einen sehr freundlichen Humor, der im Zentrum der Skizzen stehende Kaufmann Preiss ist zwar nicht unbedingt eine sympathische Figur, aber die anderen, in seinem Comptoir unter ihm Arbeitenden sind es auch nicht, es bekommt hier jeder sein Fett weg, von Agitprop-Literatur ist man hier noch sehr weit entfernt. Der Ton ändert sich im letzten Drittel der Skizzen, die in der im Jahr 1848 gegründeten progressiven Zeitschrift „Neue Rheinische Zeitung“, bei der Weerth als Feuilleton-Redakteur gearbeitet hat, erschienen. Weerth führt den Kaufmann Preiss nun als Opfer der 48er Revolution vor, der sich völlig verspekuliert hat und nun ganz ohne Aufträge mit seinem Buchhalter Lenz in seinem Büro sitzt und überlegt, was zu tun sei. Preiss ist natürlich nicht dumm und weiß, welche Fahnen gerade wehen, und so schlägt er seinem Buchhalter triumphierend vor: „Wohlan! Wir wollen eine Unternehmung in schwarzrotgoldenen Kokarden machen!“ Da man aber natürlich nicht weiß, ob Revolutionen vielleicht nur so lange dauern wie Fußballweltmeisterschaften, macht der ins Unglück gefallene Kaufmann sofort wieder einen Rückzieher, denn wer weiß, ob nicht morgen schon die Fahnen der Franzosen angesagt sind. Preiss kommt schließlich eine geniale Idee, die das übernationale Element schon in der Verwendung des Artikels trägt, der immer nach vorne losgeht und somit eine für einen Kaufmann beruhigende Zeitlosigkeit mit sich führt: Preiss wird in Schrapnells machen, die so ähnlich funktionieren wie Granaten, nur schon ein bisschen früher, nämlich in der Luft, kurz bevor das Ziel erreicht ist. Das Entscheidende bei Preiss ist nun aber nicht die sofortige Umsetzung der Idee, sondern deren Anmeldung an entscheidender politischer Stelle, der „Residenz“, wo man sich für Preiss einsetzt und diesen bittet, ein neues Ministerium zu bilden. Von Staats wegen ist das natürlich eine sehr liberale Haltung gegenüber einem bislang unbekannten Kaufmann, und schon hier kann man lernen, dass man nur weit tragende Ideen (samt Material) haben muss, um es in der Gesellschaft zu etwas zu bringen. Diesen Preiss bekommt man jedoch nur zu einem satirischen Weerth.

 

Dieter Wenk (07.06)

 

Georg Weerth, Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben, Leipzig 1979 (Insel)