23. Juli 2006

Realo, hochsymbolisch

 

Die "78er" - so hat Reinhard Mohr in seinem Essay Zaungäste von 1992 jene Generation genannt, die sich auf die Suche nach einer politischen Identität machte, als sich die gut zehn Jahre älteren "68er" schon halb arrangiert hatten mit dem Ausbleiben der Revolution, mit dem Kollaps der Utopien und Ideologien. Nicht die bunte Einfachheit des Aufbruchgefühls von 1967 umhüllte die "78er", als sie die Elternhäuser verließen, sondern die graue Widersprüchlichkeit der bleiernen Zeit von 1977.

 

Im politischen Entwicklungsroman der "78er" waren diese Widersprüche nicht wie in jenem der vorangegangenen Rebellen, die sie nun als Dozenten und Professoren an den Universitäten erwarteten, als Indizien eines Scheiterns, einer Ernüchterung, einer Neuorientierung zu verbuchen. Sie waren Ausgangspunkt und Stigma.

 

Natürlich hat sich vieles davon auf dem Weg in die Zentren der Deutungshoheit verloren: Die Ökologie, in der die "78er" und ihre Partei, die Grünen, ihre Ängste und Hoffnungen deponierten, hat längst nichts mehr zu tun mit der damaligen Vision einer selbstzerstörerischen Welt, mit dem Gegenentwurf einer fundamentalen Alternative. Sie ist geronnen zur polit-ökonomischen Schlüsselkompetenz im Tagesgeschäft. Eine Verschiebung, die vielleicht entscheidender war als der offene Bruch mit dem pazifistischen Credo.

 

Sie hat ihre Entsprechungen in den Biografien der "78er", ob sie nun in der Politik, in der Wirtschaft oder im Kulturbetrieb ihr Auskommen gefunden haben. Doch die grundlegende Ambivalenz der "78er" gegenüber der Gesellschaft wirkt fort.

 

Lukas Hammerstein, 1958 geboren und damit selbst unschwer dieser Generation zuzurechnen, erzählt in seinem neuen Buch video vom Lebensgefühl dieser Generation, von einer Mischung aus Pragmatik, Zynismus, Leere und Phantomschmerz: Im Zentrum des Romans, dessen Handlung von 1979 bis 2005 reicht, stehen zwei seit Studientagen befreundete Männer und ihre Liebe zu einer geheimnisvollen Frau. Der eine ist den Weg in die Politik gegangen, ein Wiedergänger Joschka Fischers, nur smarter und tragischer zugleich. Der andere ist Berater geworden: "Organisationen verändern sich ständig, wie der einzelne Mensch", erklärt er, wenn es einmal wieder Arbeitsplätze zu streichen gilt - und merkt wohl selbst, dass er von seinem eigenen Unbehagen, seinem eigenen Wunsch spricht.

 

Jedenfalls steigt er kurz darauf aus dem Geschäft aus und wechselt die Seiten, als Angsttherapeut für die Opfer der immer brutaleren Markt- und Arbeitsideologie. Und der andere, der grüne Parteiaufsteiger, der als Realo den deutschen Militäreinsatz im Jahr 1999 begründen muss, verlässt den Parteivorstand, um sich als Politikberater in Netzwerkarbeit zu versuchen, landet schließlich als Schrottplatzmanager auf einem Flugzeugfriedhof in Arizona zwischen alten, verrosteten Boeings und der Schrumpfungsmasse der Luftlinien nach dem 11. September 2001.

 

Das klingt hochsymbolisch, aber diese Symbolik unterläuft sich selbst: Denn es geht bei dieser Geschichte eines Niedergangs nicht um den Absturz von höchsten Höhen. Es geht auch nicht ums Alter. Und schon gar nicht um Verrat, Einsicht und Buße, um die Einsamkeit der Macht oder enttäuschten Idealismus. Dazu ist die Zentralgestalt des Romans von Anbeginn an viel zu ambivalent. Tragik, Versagung, gewaltvolle Anziehung, Eifersucht sind nur Momente eines reichlich rücksichtslosen Spiels in der Leere der eignen Biografien.

 

Auch die beiden Selbstmordszenen des Buches lassen sich in keine sinnvolle Konstellation bringen: Der Sprung der jugendlichen Monika 1979 und der des Ex-Politikers 2005 lassen sich so wenig aufeinander abbilden wie der von Nero angeordnete Suizid Senecas, 1979 zitiert, ein Modell abgeben könnte für den Verlauf der Erzählung. Die Verzweiflung, von der Hammerstein erzählt, ist dumpfer, leerer, trister, als die scheinbar angebotenen Deutungsmuster und Symbole es fassen könnten.

 

Natürlich ist Hammersteins Roman dennoch eine Mixtur bekannter Ingredienzien: Geschichten vom Ruin und von der Hohlheit haben Konjunktur. Vom Elend des Beratertums war schon des öfteren zu lesen. Und auch die popkulturellen Referenzen und Seitenhiebe sind eher versiert als überraschend.

 

Seine Qualität liegt in der Form, das Politische in diese Erzählung zu spiegeln und zu brechen, weniger im Plot oder im Erzählerischen selbst. Gerade da hapert es nämlich des öfteren: Die unchronologische Anordnung der einzelnen Kapitel zeigt kaum mehr als den Willen, die Dramaturgie komplexer zu gestalten. Und auch die Alltagssprache der Erzählung wirkt manchmal reichlich ungelenk. Ein großer Politroman ist Hammerstein deshalb nicht gelungen, aber lesenswert ist das Buch allemal, ein Versuch über das Lebensgefühl jener Generation, der Reinhard Mohr schon 1992 prognostizierte, sie werde "aller ‚Profillosigkeit' zum Trotz, im Jahr 2000 das Profil der nun vereinten bundesdeutschen Republik entscheidend mitbestimmen."

 

Jan-Frederik Bandel

 

Lukas Hammerstein: Video, S. Fischer Verlag 2006, 18,90 €

 

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