9. Juli 2006

Wo sich der Schein bedeckt hält

 

Schillers äußerst fragile Konstruktion des Schönheitsbegriffs bricht an einer Stelle ab, an der es vermutlich kein Weiterkommen gab. Seine Briefe an Gottfried Körner – so die Fragment gebliebene Schrift im Untertitel – versuchen, über Kants dritte Kritik hinauszugelangen und dessen bloß subjektives Geschmacksurteil, auch wenn es Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, hinter sich zu lassen und mit einem objektiven Schönheitsbegriff zu arbeiten. Die wichtigsten Termini und das Gerüst lässt sich Schiller aber natürlich von Kant vorgeben, so die fundamentalen Unterscheidungen von Vernunft und Sinnlichkeit, Anschauung und Begriff oder reiner und praktischer Vernunft. Wie Kant auch geht Schiller nicht empirisch vor, die Arbeit am Begriff geht voran. Seinen Begriff der Schönheit gewinnt Schiller nicht aus der Anschauung, sondern aus ästhetischen Überlegungen, die sich aus einem Diskurs speisen, der seit Mitte des Jahrhunderts versucht, gerade die Eigenständigkeit der sinnlichen Erfahrung zu nobilitieren. Dass man hierüber aber erst einmal in Begriffen sprechen muss, ist klar, drängt aber die Erfahrung mit Kunst, wie wir sie heute verstehen, zunächst in den Hintergrund. Schillers Beispiele, um seinen Begriff zu illustrieren, wonach Schönheit „Freiheit in der Erscheinung“ sei, sind denn auch für den heutigen Leser nicht so recht plausibel; wir legen es heute nicht mehr darauf an, moralische Handlungen schön nennen zu wollen. Schiller ist jedenfalls ganz im Bann der Kantischen praktischen Vernunft. Aus ihr leiht sich Schiller den Begriff der Autonomie. Der Wert einer moralischen Handlung besteht darin, dass sich in ihr Vernunft das Gesetz des Handelns gibt – aus Freiheit. Analog zu dieser Selbstgesetzgebung oder negativ zu der Nichtbestimmtheit durch anderes begreift Schiller eine Handlung oder ein Objekt als schön, wenn es so aussieht, als ob es frei sei, als ob es sich selbst hervorgebracht habe und als ob mit ihm keinerlei Zweck verbunden sei. Diese Konstruktion ist deshalb fragil, weil Schiller allen Beteiligten dieser schönen Handlung zumutet, alles Mögliche zu vergessen, zu vertilgen oder zu verlieren. Freiheit ist nur ein Schein, sie ist nicht sinnenfällig. Streng genommen, und das sieht auch Schiller, kann sie noch nicht einmal erscheinen, wie es seine Definition verlangt. Denn Freiheit ist eine Idee. Der Betrachter muss vergessen, dass sich ihm die Form, das eigentliche immaterielle Inkarnat der Schönheit, in einem Stoff zeigt oder auch durch ein Medium hindurch, das selbst keinen Anspruch auf Beachtung erheben darf. Stoff und Medium sind bloßes Vehikel, die etwas transportieren, das selbst nicht zu sehen ist. Es geht nur darum – aber das ist schon sehr viel –, dass das wie auch immer komplexe ästhetische Objekt eben genau nur das beim Betrachter oder Leser auslöst, von dem Schiller glaubt, dass es das Zentrum der ästhetischen Erfahrung sei, nämlich ein Gefühl von Freiheit zu erleben. Als ein immer schon gerne kritisiertes Beispiel führt Schiller den Tanz an, bei dem alle Beteiligten sich so verhielten, dass alle das zu tun scheinen, was ihnen der Moment gebietet, ohne den anderen auf die Füße zu treten. Schönheit ist hier also nichts anderes als eine Gruppenerfahrung eines ästhetisch gemachten kategorischen Imperativs. Die Grenze meiner Freiheit ist die Freiheit des anderen. Schönheit ist kompositionell, und sie folgt einer prästabilierten Harmonie. Schillers Empfehlungen an den Maler sind nachgerade demokratisch; der Künstler habe alles so anzulegen, dass alles seinen Platz habe, Bäume werden rücksichtsvoll, aus Respekt machen sie dem Hintergrund Platz. Was aber passiert mit ästhetischen Objekten, die nicht den Vorteil haben, sinnlich erscheinen lassen zu können, zum Beispiel die Poesie? Das Medium der Sprache sind abstrakte Zeichen, die den vermeinten sinnlichen Bezug ihres Autors hinter sich lassen mussten. Zeichen sind eben für alle da, sie sind nicht individuiert wie ein Gemälde oder eine schauspielerische Rolle. Und die Einbildungskraft des Autors ist nicht die des Lesers. Schiller bekommt hier also mit ganz anderen Problemen zu tun, die ihn weit weg führen von seinem nach Objektivität heischenden Freiheitsbegriff. Ist Sprache überhaupt ein geeignetes künstlerisches Medium? Können wir das Medium vergessen, wenn wir doch nur es haben als Vehikel? Man kommt hier auch mit dem Formbegriff nicht weiter. Schiller scheint das zu merken und versucht es mit einem Befreiungsschlag, indem er zum wiederholten Mal auf einen Naturbegriff zurückgreift, der äußerst unscharf ist und ihn mal auf Seiten der Freiheit, mal auf Seiten der bloßen Sinnlichkeit situiert. Am Ende der Schrift heißt es: „Die Schönheit der poetischen Darstellung ist ,freie Selbsthandlung der Natur in den Fesseln der Sprache’“. Auch für paradoxie-affine Geister ist diese Bestimmung nicht sonderlich hilfreich. Die Formel des l’art pour l’art ist ungleich eleganter, auch wenn sie falsch ist. Sprache scheint sich also als Medium nicht ganz zum Verschwinden bringen zu können, sie gibt immer von sich aus mit und ist somit, ganz im Sinn von Novalis und Brentano, durchaus romantisch.

 

Dieter Wenk (06.06)

 

Friedrich Schiller, Kallias oder Über die Schönheit, in: F.S., Über das Schöne und die Kunst. Schriften zur Ästhetik, München 1984 (dtv)