29. Juni 2006

Das gute Buch

 

Jemand, der sich nicht vorstellt, nicht vorgestellt wird, dessen Vorstellung voll gestellt ist von weißer Wüste und der Frage nach einer Verschwundenen und einem verlorenen Beginn, wird an den Anfang eines Romans geschleudert und sucht sein vergangenes Leben. Er sucht es in der Gegenwart fortzusetzen und findet keinen Anknüpfungspunkt. Irgendetwas ist passiert. Etwas Schreckliches. Man weiß nur nicht, was. Weiß es die Hauptfigur?

Etwas muss den Erzähler, der sich zwischen Ich und Du zurechtfinden soll und den Leser hinein zieht in seine verschobenen Perspektiven, schwer geschockt haben. Dass man als Leser nicht weiß was, erzeugt Suspense und trägt die Geschichte. Der, der sucht, sieht sich in die Geheimnisse fremder Leben verstrickt und hängt an seidenen Fäden.

 

Klar:Text: Das klassische Motiv: Wo ist Sie? Was weiß die Freundin, Flo, die in einer Spielhalle als Aufsicht arbeitet? Sie weiß etwas, mag aber nichts sagen. Weiß sie wirklich etwas? Und was ist passiert? Gibt es Kontakte zu seiner Freundin? Nach vielen Seiten erfährt man, dass hier jemand ein halbes Jahr weggesperrt lag, in einer Schlafkur: Jemand. Aber nicht die Freundin.

 

Danach kehrt er in die Stadt zurück, in die Vorstadt, die auch verschlafen hat, in der dennoch etwas vorgefallen ist, dass einen Riss erzeugt hat, in ihm, in der Zeit, in seiner Wahrnehmung von Zeit. Er irrt durch die Straßen. In vielen Frauen sieht er die Eine: Lea. Immer wieder. Überall.

„Du liebst sie. Du weißt, dass Dein Auge genau in ihren Bauchnabel paßt.“ Zärtliche Knöpfe, zärtliche Beschreibungen. Sachte, ganz der schüchterne Gentleman, umkreist die namenlose Hauptfigur sein Objekt der Begierde, die von einer Aura der Mysteriösität umgeben ist. Sie ist nicht zu haben, verschwunden, schon als er sie körperlich vor sich hatte, damals, unnahbar, unbegreiflich. Ihr zuliebe, sie zu suchen, schleust er sich in die Organisation ein, die ihr angeblich neuer Geliebter leitet: New Tonic. Ein Imperium, von dem all seine Bekannten verschluckt wurden: Freunde, verhasste Schulkollegen, seine Ex-Freundin. New Tonic betreibt den (noch) illegalen Vertrieb einer Droge, die das Miteinander erleichtern soll. Ein Medikament gegen Sozialphobie. Diese Droge ist Voraussetzung für die Verbreitung der Droge. Alles gleitet ineinander, Schranken schwinden, lösen sich auf. Jemand nimmt die Droge, die Paxil genannt wird, muss sie nehmen, nimmt immer mehr; wird er abhängig? Die Beziehungen zwischen den Menschen werden oberflächlich, seifig, man rutscht aneinander ab. Menschen ohne Profil und individuellen Willen, der ein Hindernis ist, arbeiten zusammen für den großen Erfolg. Ganz nach altem japanischen Vorbild: Corporate Identity.

 

Hier geht es aber nicht um den schwammigen Begriff von Identität, sondern um ein exaktes, permeables System, um die Auflösung von Innen und Außen, um ein seltsames Durchdrungen-Werden von Etwas, das auf ein vielverzweigtes Interpretations- und Zeichen-Wahnsystem stößt, in dem man sich verirrt, auf dass die Personen geradezu verschwinden und als neue zurückkehren, oder sich selbst töten. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung hat die gesamte Gesellschaft und nicht nur Einzelne erfasst. Lauter Jemand. Der Defekt ist den Figuren nicht angedichtet, sondern durchwirkt den gesamten Text. Die Auflösung von Wünschen und Werten ist längst erfolgt.

 

Die namenlose Hauptfigur hat eine hilflose, unter Valium stehende Mutter, die wiederum zwei Wellensittiche zu füttern vergißt. Meistens. Und auch die Hauptfigur hat einen Vogel: Eine Amsel, die in den unpassendsten Situationen wie eine asoziale Randerscheinung herbei halluziniert wird, um dann mit dem Fuß hinter einen Vorhang gescharrt zu werden. Zum Beispiel. Alles in Gedanken. Oder in einer surrealen Realität, einer Wahnwelt, die jemandem erscheint, wenn der Druck, der auf ihr lastet, zu groß wird. „X“ ist ein fantastischer Albtraum, der sehr real wirkt.

 

Szenen, von denen unklar ist, ob sie Traum-, Fantasie- oder Erinnerungsszenen sind, geben den Vorstellungswelten des Lesers eine ungewisse Haltlosigkeit, versetzen ihn in den reizvollen Zustand des Nichtwissens, Nicht-genau-Wissens, Ahnens und machen deutlich, wie es um die Wahrnehmung bestellt ist. Der Raum zwischen den schweigenden Menschen, der allen Spekulationen die Pforten der Wahrnehmung öffnet oder verschliesst, er wird begehbar.

 

Sex, Eifersucht und psychische Gewalt gehen eine geheimnisvolle Allianz ein, die das Mädchen Lea – ähnlich wie bei der in David Lynchs „Lost Highway“ (von Patricia Arquette verkörperten) Figur Renee/Alice – zum überdimensional-begehrenswerten Objekt machen, größer als die Person, die dahinter steckt, es jemals sein könnte.

 

Die Figur des Erzählers, ihr Blick, ihr Ton, ist ausgestattet mit einer seltsamen Gelassenheit, die etwas Beunruhigendes hat. Man wartet auf einen Knall, eine riesige Explosion, hinter der sich dann die Wirklichkeit abzeichnet, wie etwas Neues, Überraschendes, grotesk Fratzenhaftes, dass einem den Atem nimmt. Und der, der neben sich steht und sich mit Ich und auch mit Du anredet, changiert, wen meint er? Den Leser, sich, am Ende mich, Dich, uns?

 

Das Buch ist eine Reise durch den Zustand der heutigen Gesellschaft. Sehr zeitgenössisch und daher auch etwas futuristisch. Auf der Suche nach der verlorenen Gegenwart werden die Zerbrechlichkeiten der Gegenwarten eingefangen, die Momente, in denen sich alles auch anders hätte ereignen können. Zeit als verschachteltes System, das in jedem Moment neu auseinanderbröselt und sich sofort wieder ganz anders konstituieren könnte, was es erstaunlicherweise nur manchmal tut. Das erinnert gekonnt an die Arbeit des Filmemachers Tarkoswkji. X steht nicht für die Phase nach der Generation X, sondern um das oder die Unbekannte.

 

Und es geht ums Retten. Oder, um unschöne Worte zu bemühen: Um Co-Abhängigkeit und Helfer-Syndrom. Erst, als der Namenlose auf das Retten von Lea verzichtet, geht sein Leben weiter, zieht er in die Wohnung seiner Mutter und will mit Flo zusammen leben. Ein klareres Leben kann beginnen. Vielleicht.

 

Daniel Goetsch bearbeitet diese Themen souverän in einer unaufgeregten, unaufdringlichen Sprache, deren Knall invers dechauffriert werden kann. Dieses Buch ist ein echter Psycho-Thriller.

 

Daniel Goetsch veröffentlichte 1999 den Debütroman „Aspartam“. 2001 wurde sein Monolog «Mir» am Schauspielhaus in Zürich aufgeführt sowie „Kurzwelle“ 2002 in Hamburg und „Ammen“ 2003 in Heidelberg uraufgeführt. Außerdem betreibt Daniel Goetsch die Gruppe „Superterz“.

 

Carsten Klook

 

 

Daniel Goetsch: X (Roman, Bilgerverlag)

 

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