29. Juni 2006

Zum 150-jährigen Geburtstag

 

Zwar gibt es schon seit langem eine Studienausgabe der Werke Sigmund Freuds, aber studieren kann man die Psychoanalyse nicht, während ihres mehr als hundert-jährigen Bestehens hat sie es nicht geschafft, als universitäres Fach anerkannt zu werden. Warum eigentlich nicht? Freud hat sich immer als Forscher, Arzt und Wissenschaftler gesehen, das war sogar der Grund, warum er seine Tätigkeit als Neurologe aufgegeben hat, weil er glaubte, auf diesem Gebiet über zu wenig Wissen zu verfügen, um psychisches Material mit dem biologischem Substrat abgleichen zu können. Hundert Jahre nach Freuds „Entwurf“, postum 1950 veröffentlicht, sieht die Sache ganz anders aus. Vielleicht wäre Freud heute ein begeisterter Anhänger der Neuro-Wissenschaften, und vielleicht wird einmal die Psychoanalyse als ein vertracktes Zwischenspiel auf dem Weg der Erkundigung der menschlichen Seele erinnert werden. Für eine solche Diagnose ist es natürlich viel zu früh, und auch dieses Freud-Handbuch hält sich nicht mit Spekulationen darüber auf, und doch hätte man sich gewünscht, dass neben der Rückschau zu Freud und seinem Werk nebst Rezeption auch ein wenig über die Zukunft einer Desillusionierung gesprochen worden wäre in Zeiten, wo alles nicht-biologisch Fundierte, das gleichwohl Substanzielles zum Leben sagen zu können glaubt, unter extrem hartem Rechtfertigungsdruck steht. Und manche Äußerungen Freuds konnte man durchaus in dem Sinn verstehen, dass die Psychoanalyse eine Übergangswissenschaft sei, bis eben bessere Zeiten kommen, wo man wieder mehr über Organisches etc. würde reden können. Heißt das aber, dass die Psychoanalyse bloß eine Sackgasse war? Ganz unabhängig davon, was die Neuro- und Kognitionswissenschaften zu bieten haben werden, auch und gerade auf therapeutischem Feld, und ganz unabhängig davon, wie wissenschaftlich Freuds Psychoanalyse nun war oder immer noch ist und welchen Erkenntniswert man ihr zusprechen mag, so hat natürlich die Psychoanalyse ihre Effekte gehabt, und die lassen sich gar nicht alle einzeln aufzählen. Ihre Begrifflichkeit ist mehr oder weniger in das Normalleben eines jeden eingedrungen, noch bevor man die Möglichkeit hatte, sich dagegen zu wehren, man mag sich über Freuds Pansexualismus lustig machen und merkt doch, dass gerade heute alle relevanten Verhältnisse von Werbung bis Beziehung und Freizeit durchsexualisiert sind. Dieses Handbuch hat nicht die Absicht, zu Freud zu bekehren. Das ist gar nicht mehr nötig. Es ist vorzüglich dazu geeignet, die sicherlich nicht kritische, wohl aber diffuse psychoanalytische Masse ein weiteres Mal zu analysieren, um einmal wieder eine Ahnung davon zu vermitteln, wovon „das“ alles herkam, welchem gesellschaftlich-historischen Rahmen es seine Genese verdankte und auf welchen Feldern Psychoanalyse wirksam wurde und auf welchen eher keine (gegenseitigen) Befruchtungen zu erwarten waren. Bei all dem wird man erkennen, dass sich die Psychoanalyse aus dem 20. Jahrhundert nicht extrahieren lässt. Wie kaum eine Disziplin hat sie es mitbestimmt, und das ist ihr auch ohne universitäre Anerkennung gelungen. Das Handbuch ist in fünf Teile geteilt, der erste informiert über „Freud und seine Epoche“, der zweite stellt, angenehmerweise thematisch und nicht chronologisch, Freuds Werke bzw. Werkgruppen vor einschließlich des opulenten brieflichen Korpus’, ein knapper dritter Abschnitt fokussiert bestimmte rekurrente Themen und Motive Freuds wie Antike, Religion und Mythos, der vierte, vermutlich ergiebigste Teil stellt die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte vor, nach Disziplinen geordnet. Hier hätte man sich, wie gesagt, einen Abschnitt zu Biologie oder Naturwissenschaft gewünscht, aber vielleicht ist ja genau dieses Ausfallen symptomatisch für eine Beziehung, die man als eine mit dichten Schotten bezeichnen müsste. Für eine gehaltvolle Befragung von Synapsen ist es möglicherweise noch zu früh. Der letzte, fünfte Teil bietet eine Zeittafel, eine Bibliografie von Freuds Werken, ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren dieses Handbuchs sowie dankenswerterweise ein Personenregister. Mit seinen 450 Seiten kommt dieses Handbuch relativ schmal daher. Aber es erweist sich damit als exzellentes ausführendes Organ zweier Freud’scher Mechanismen: der Verdichtung und der Verschiebung. Auf einen kleinen Fehler sei noch aufmerksam gemacht: Hans-Dieter Gondek weist auf Seite 363 auf Lacans Instrumentalisierung des Borromäischen Knotens hin, der „auf das Familienwappen des Grafen Borromeo zurückgeht, das drei derart ineinander verschlungene Ringe aufweist, dass man jeweils zwei dieser Ringe zerschneiden muss, um den dritten freizusetzen.“ Der Clou bei Lacan ist ja aber gerade, dass man lediglich einen Ring zerschneiden muss, damit die beiden anderen (das Prinzip gilt auch für Knoten mit mehr als drei Ringen) freigesetzt werden können. Nur so lässt sich die Interdependenz von Realem, Imaginärem und Symbolischem vor Augen führen, Lacans System ist triangulär oder gar nicht. Das Handbuch eignet sich auch vorzüglich als Einstieg in eine Beschäftigung mit Freud.

 

Dieter Wenk (06.06)

 

Hans-Martin Lohmann/Joachim Pfeiffer (Hg.), Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2006 (Metzler)

 

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