25. Juni 2006

Das Leben der anderen

 

Naturkatastrophen eignen sich immer gut als Hintergrundkulisse menschlicher Schicksale, wie das deutsche Fernsehen vor einigen Monaten erst wieder mit dem Zweiteiler über die Hamburger Sturmflut bewiesen hat. Auch die Niederländer haben nun eine Dramatisierung ihrer Flut von 1953, allerdings in Form eines Romans von Margriet de Moor. Darin geht es glücklicherweise nicht um eine kitschige Liebesgeschichte, sondern um das Schicksal zweier Schwestern aus Amsterdam. Ausgangspunkt der Ereignisse ist der anstehende Besuch der jüngeren der beiden Schwestern, Armanda, bei ihrem Patenkind auf einer Insel der Provinz Zeeland. Da Armanda dazu aber keine Lust hat, bittet sie ihre ältere Schwester Lidy, an ihrer Stelle zu fahren. Armanda selbst geht stattdessen lieber mit dem Mann ihrer Schwester auf eine Familienfeier. Also wird Lidy Opfer der Sturmflut, Armanda dagegen muss fortan mit der Gewissheit weiterleben, dass sie es war, die ihre Schwester dazu überredet hat, an ihrer Stelle zu fahren.

 

Auch diese Geschichte hätte Potenzial zum Kitsch, die Autorin schafft es jedoch, das Leben der beiden Schwestern, in zwei Handlungssträngen nebeneinander gestellt, so zu beschreiben, dass die ganze Willkürlichkeit des menschlichen Daseins zum Ausdruck kommt. Eine Entscheidung, so irrelevant sie auch erscheinen mag, zieht den Figuren des Romans den Boden unter den Füßen weg. Und wie lebt es sich im Leben einer anderen? Diese Frage muss sich Armanda stellen, nachdem sie den Mann ihrer Schwester geheiratet hat und sich um deren Tochter kümmert. Ohne die Flut und Lidys Verschwinden darin wäre Armandas Leben nicht weiter außergewöhnlich, mit der vermissten Schwester im Hintergrund erhält die Geschichte jedoch eine subtile Dramatik, dass man sich fragt, was schlimmer ist, in der Flut umzukommen oder ein Leben zu führen, das sich nie richtig als das eigene anfühlt.

 

 

Katrin Zabel

 

Margriet de Moor: Sturmflut. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, 350 Seiten, Hanser 2005

 

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