20. Juni 2006

Zwischen Symbolismus und Pop

 

Mit Jean-Paul Sartre stimmt Georges Bataille darin überein, dass literarische Werke, die etwas wert sind, ohne einen gewissen existentiellen Druck auf Seiten des Autors undenkbar seien. Diese Annahme selbst ist natürlich wenig originell. Ob ein Leser von dieser geforderten Not überhaupt etwas mitbekommt, steht noch mal auf einem anderen Blatt. Vielleicht sympathisiert der Leser auch mehr mit Poes Kompositionslehre oder bekennt schon längst resigniert oder humorvoll, dass Literatur das Leben doch nicht einfangen kann, wie stark der Autor auch am Transmissionsriemen ziehen mag. Und doch lässt auch den abgeklärtesten Leser Batailles Bekenntnis wohl nicht ganz kalt, wenn er sagt, „dass einzig und allein eine innere Qual, die mich fast verzehrte, den Ausgangspunkt für die ungeheuerlichen Anomalien von ,Das Blau des Himmels’ bildete.“ Diese Anomalien sind nicht im Formalen zu finden. Die Geschichte eines reichen Mannes, Henri Troppmann, ist traditionell geschrieben und leicht zu lesen. Die Höhe, die der Leser erklimmen muss, ist die eines recht eigenartigen Plateaus von Superlativen, deren Neigungswinkel zugleich in die tiefsten Tiefen der Hölle führen. Henri Troppmann ist ein Typ in der lockeren Folge dekadenter Figuren à la Des Esseintes von Huysmans mit dem Unterschied, dass Troppmann sich nicht in seiner Bude verbarrikadiert. Fast möchte man sagen, er ist eine Art Mittlerfigur literarischer Gestalten zwischen Symbolismus und Pop-Roman. Diese Leute arbeiten natürlich alle nicht. Sie haben zu viel Zeit, sich die Sinnfrage zu stellen und sich dann systematisch den Kopf zuzudröhnen, nachdem sie erkannt haben, dass es nichts gibt, was sie übersteigt. Sie leiden wahnsinnig. Unvorstellbar. Wenn sie verheiratet sind wie Troppmann, geht die Ehe kaputt. Die ganze Hoffnung wird auf Leidenschaft, Sex etc. gesetzt, und weil auch das zu viel auf einer Karte ist, wird man impotent wie Troppmann. Immer mehr Grenzen müssen überschritten werden, damit man sich überhaupt noch spürt. Kein Wunder, dass Troppmann, wie vor ihm schon Baal, nekrophile Züge trägt. Dann kommt auch noch ein verkappter Inzest mit der eigenen (toten) Mutter dazu. Und wenn man braven, aber hässlichen Mädchen wie hier Louise Lazare solche Geschichten erzählt, wird man sie vermutlich arg verletzen. In atemlosem Tempo nimmt Bataille den Leser mit von Kneipe zu Kneipe, Hotelzimmer zu Hotelzimmer, man schreibt das Jahr 1935, noch kann der Held als Antiheld problemlos von Wien nach London nach Paris nach Barcelona reisen. In der katalanischen Hauptstadt weht ihm der Hauch der Geschichte entgegen, dessen proletarisch-nationaler Atem ihn an die reine Küste mit dem blauen Himmel über ihr verscheucht, wo er ergebnislos darüber nachdenkt, wie er es schaffen kann, zwei Geliebte auf einmal zu versorgen, wo schon eine allein vielleicht auf ihre erotischen, kaum aber auf ihre sexuellen Kosten kommt. Eine der Frauen reist mit dem Schlafwagen an und liest dabei „L’Humanité“. Die andere ist nicht weniger antibürgerlich eingestellt, kann aber mit dem Pfeil der Geschichte auch nichts anfangen. An einer Stelle sagt Troppmann von ihr, bereits in Deutschland: „Dirty lag in meinen Armen, sie hatte ihren Mantel ausgezogen, unter dem sie ein leuchtendrotes Seidenkleid trug, so rot wie die Hakenkreuzfahnen.“ Etwas später kommt der Ich-Erzähler in den Genuss eines Trommel- und Pfeifenkonzerts einer HJ-Truppe. Das ist die Schluss-Katharsis des Romans, eine Art Fluchtpunkt im geschichtlichen Sinn, wonach alles, was existiert – nach der Erfahrung dieser „Obszönität“, einer Mischung von Infantilität und Sex, die die Herrschaft antreten wird – dem Untergang geweiht ist. Troppmann ist nicht zu helfen, seiner Zeit ebenso wenig.

 

Dieter Wenk (06.06)

 

Georges Bataille, Das Blau des Himmels. Roman, aus dem Französischen von Sigrid von Massenbach und Hans Naumann, mit Beiträgen von Marguerite Duras und Bernd Mattheus, Berlin 2006 (Matthes & Seitz Berlin)

 

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