14. Juni 2006

Schwieriger Abschied vom Symbol

 

Für die Schüler gab es hier nichts mehr zu fischen. Stéphane Mallarmé war einer der ersten, der die Arbeit am Wort so weit getrieben hatte, dass er auf seinem Gebiet, der symbolistischen Dichtung, nicht mehr zu überbieten war. André Gide war sich dessen sehr bewusst und riss das Ruder beherzt um. Statt Symbolismus Vitalismus. Auch wenn die Kräfte dafür erst mal nicht reichten, wie diese wunderbare Satire zeigt. Das Leben lebt nicht, das ist der Befund des Doppel-Autors der „Paludes“, der sich für seinen universalen Satz einen inneren Rahmen schafft wie um zeigen zu wollen, dass man dem Morast, den man konstatiert, so schnell nicht entkommt. Gide schreibt also eine Satire mit dem Titel „Paludes“, in der ein seltsamer Vogel ein Buch schreibt mit dem Titel „Paludes“. Gides selbst ernanntes künstlerisches Prinzip der „mise en abîme“ findet hier zum ersten Mal größere erzählerische Anwendung. Es ist in etwa das Prinzip der russischen Puppen, die sich, potentiell endlos, selbst enthalten. Das Prinzip ist natürlich mindestens genauso überlegt, reflektiert wie Mallarmés Dichtung. Und teilt mit ihr die seltsame Attraktivität und den geheimen Magnetismus der Selbstreferenz. Kein Wunder, dass der interne Autor aus seinem Sumpf nicht rauskommt, den er, zunächst in Selbstverblendung, vor allem bei den anderen konstatieren zu können glaubt. Der Sumpf – das sind die anderen. Man findet hier schon komplett ausgebildet die Position, die später Guy Debord einnehmen wird in vollendeter Arroganz, nämlich sich selbst auf die Schulter zu klopfen und/um die anderen Arschlöcher nennen zu können. Gide geht insofern auch schon über Debord hinaus, als er nicht nur eine Satire (über die anderen Gewohnheitstiere) schreibt, sondern auch eine Art minimalistischen Bildungsroman, der am Ende dem verblendeten Autor die Augen über sich selbst öffnet, was ihn dazu zwingt, die Universalität des Paludismus auch auf sich anzuwenden. Sonst hätte ja auch die „mise en abîme“ keinen Sinn, wenn es am Ende nicht mit „Polders“ weiter ginge, die wenig glorreiche Fortsetzung von „Paludes“. Zentrum von „Paludes“ ist ein Bankett bei der Freundin des namenlosen Autors, wo natürlich auch ein weiteres Prinzip des Schreibens bekannt gegeben wird. Im Zentrum der internen „Paludes“ steht eine Figur namens Tityre, aus Vergil entlehnt, die im Morast lebt, dort aber ganz zufrieden zu sein scheint. Kraft der universalen Sogwirkung des Morasts wird nun „Tityre“ wie eine Waffe eingesetzt auf alles, was dem Autor entgegen kommt. Auch hier kann also der interne Autor sagen: Tityre – das sind die anderen. Das sind die, die sich zufrieden geben und sich nicht beklagen, wo man sich beklagen müsste, ein Gide’sches Grundproblem. Auf dem Bankett kommt es zum Eklat, weil die anderen finden, dass „Paludes“ mindestens genauso langweilig ist wie das, was langweilig zu finden „Paludes“ behauptet. Auch hier kommt man aus der Selbstbespiegelung nicht heraus. Der Vitalismus wird zwar eingeklagt, kann aber hier noch nicht umgesetzt werden, zu dicht ist man noch an Huysmans’ Des Esseintes dran – 1884 erschien „À rebours“, die Bibel der Dekadenz, 1893 Gides „Paludes“. Ich kenne keine Satire, die so entspannt daher kommt wie Gides kleines Buch. Es liest sich immer noch wie frisch aus der Druckerpresse, sehr modern und ziemlich amüsant.

 

Dieter Wenk (06.06)

 

André Gide, Paludes, Paris 1920 (Gallimard)