13. Juni 2006

Abdecken, aufdecken

 

Grünes Meer, Unterwasseraufnahmen, dann eine verzweifelte Frau in einem Restaurant am Telefon, eine leidende Stimme am anderen Ende, vermutlich das Ende einer großen Liebe, der Mann kann nicht mehr, die Frau will noch, dann muss sie auflegen, sie macht sich Sorgen, sucht den Mann auf, der ist weg, dann beginnt die große Suche. Der Anfang des Films ist so pathetisch wie der Titel. Er hätte nicht lauten können „Lorenzo und der Roman“ (falsches Jahrzehnt) oder „Elena und der Verlust“ (ebenfalls falsches Jahrzehnt), er muss modisch so heißen, wie er heißt. Der Titel legt nahe, dass es womöglich einen eigenen oder gar privilegierten Zugang zum ficken gibt. Wenn es aber DEN Sex gibt, der hier so selbstverständlich vorausgesetzt wird, wie sollte man da noch etwas hinzuerfinden oder eine Geschichte erzählen, die den Sex noch stärker artikuliert? Dabei wird nichts anderes als die bekannte Geschichte mit dem kulturellen Köder erzählt. Ein Mann schreibt einen Roman, und eine Frau verliebt sich in den Autor aufgrund des Romans. Der Mann verliebt sich ebenfalls in die Frau, beide haben viel Sex, der sehr ausführlich gezeigt wird, was einen doch sehr wundert, denn der Sex, der dem Schriftsteller noch besser gefallen hat – der, den er auf einer Insel erlebt hat und in seinem Roman beschreibt –, wird mal gerade in einer Einstellung vorgeführt. In ihrer Sexbesessenheit sieht Lucia nicht, dass es bei ihrem Freund noch etwas anderes gibt, einen zweiten Roman, hinter dem eine finstere Wirklichkeit steht. Sex, so lernen wir jetzt, hat immer mit Schuld zu tun, sei es, dass wir unsere eigenen Kinder nicht kennen, sei es, dass die Kinder beim Sex mit fremden Frauen sterben. Sex macht blind, mehr noch als Liebe. Das Verlogenste dieses Films besteht darin, dass er vorgibt, von Liebe zu handeln, und doch nur Sex zeigt. Eigentlich ist das nämlich ein pornografischer Film, und deshalb hat der Regisseur wohl eine pornografische Sequenz eingebaut, um zu verhindern, dass man den Film insgesamt damit verwechselt. Aber leider ist er das, pornografisch und obszön, auch und gerade dann, wenn es nicht um Sex geht. Es ist der Vollmond, der nervt (Marinetti hätte den Film nicht überlebt), das Kleinmädchengehabe gegenüber dem Schriftsteller (Groupies sterben nie aus), der unausrottbare Rassismus der schönen Kinofrauen (gelobt sei die diesbezügliche Abstraktheit der Literatur, was das Apportieren auf Seiten des Lesers nicht aus-, sondern einschließt), die Vorwegnahme der erwünschten Reaktion des Zuschauers auf den Gesichtern der Schauspieler (krass am Ende des Films Elena, wie sie ihre Hände vors Gesicht schlägt, aber das hat das Kino vermutlich vom Theater). Der Film ist eine einzige Ausbeutung, er ist schamlos, er wirkt nicht, weil er es zu sehr will. Wenn sich aber ein solcher Dauerwiderstand beim Zuschauer zeigt, muss irgendwas im Argen liegen. Sehen Sie selbst. Hier noch der Plot:

An seinem 25. Geburtstag hat der Schriftsteller Lorenzo den besten Sex seines Lebens mit einer Frau, die er nicht kennt und die ihn nicht kennt. Sie sagen sich gerade mal zwei, drei Dinge voneinander, dann verlassen beide die Urlaubsinsel, ohne sich wiederzusehen. Er geht zurück nach Madrid und schreibt einen Roman, in dessen Zentrum dieses Liebeserlebnis steht. Ein paar Jahre später wird der Schriftsteller in einer Bar von einer Frau angesprochen, die ihm unumwunden sagt, dass sie ihn wahnsinnig liebt und dass das vor allem mit dem Buch zu tun hat, das es ihr so angetan hat. Sie möchte, dass er mit ihr zusammenzieht und dass er sich irgendwann in sie verliebt. Das geht schneller, als sie zu hoffen wagt. Sie brechen sofort auf in seine Wohnung, wo sie sofort Sex haben. Sie haben viel Sex miteinander, der Schriftsteller ist ein guter Liebhaber, auch wenn man ihm das nicht abnimmt, er schaut zu schafhaft. Während Lucia stöhnt, dass sie beim ficken stirbt, schaut Lorenzo ganz verklärt, als ob er das nicht fassen könne. Irgendwann ist Lorenzo nicht mehr so richtig bei der Sache. Der Film beginnt am Ende dieses Prozesses. Man sieht Lucia mit Lorenzo telefonieren, sie schlägt ihm eine Reise auf die Insel vor mit viel Sex, er aber ist am Ende und verabschiedet sich. Was ist passiert? Lucia fährt auf die Insel, von der am Anfang die Rede war, und fällt dort in eine Art Zeitloch. Die Dinge werden von da an nicht ganz so ordentlich erzählt, wie sie sich zugetragen haben. Jedenfalls erfährt man, dass Lorenzo mit der Frau, auf die Lucia auf der Insel trifft, ein Kind gezeugt hat, das nichts von ihm weiß. Diese Frau, Elena, ist natürlich keine andere als die, mit der er vor Jahren den besten Sex hatte. Elena lebt dort mit einem Taucher, der nach ihren Angaben den längsten Schwanz der Welt hat. Sie ist auf die Insel geflohen, um zu vergessen. Sie hat ihr Kind verloren. Und mit daran Schuld ist Lorenzo, der mit dem Kindermädchen von Elena Sex hatte, derweil der große Haushund das Kind zerbiss. Außerdem hatte Lorenzo Sex mit der Mutter des Kindermädchens. Lorenzo geht an der Schuld fast zugrunde. Zwei Jahre lang hat er Schreibblockaden, nichts geht mehr. Dann hat er einen Unfall, der genau nach dem Telefongespräch mit Lucia passiert. Lorenzo überlebt, sein Freund peppelt ihn wieder auf, die beiden fahren auf die Insel. Hier söhnt sich Lorenzo mit Elena aus. Und auch Lorenzo und Lucia kommen wieder zusammen.

 

Dieter Wenk (08.02)

 

Julio Médem, Lucia y el sexo (Lucia und der Sex), Spanien 2001