3. Juni 2006

Boheme als Kaste

 

Wer in Reinkarnationszyklen denkt, muss nicht in erster Linie an Interventionen in konkretes Leben interessiert sein. Später wird es ja sowieso anders. Im nächsten Leben. Das ist die große Entlastung, auf die der Bildungsbohemien Harry Haller am Ende stößt. Schon vorher war ihm klar geworden, dass er viele Seelen mit sich herumträgt, die meisten allerdings beschäftigungslos. Alles, was die Seelen mit dem Leben im emphatischen Sinn verbindet, ist bei Haller unterentwickelt. Er weiß viel, ist ein stiller Genießer von Literatur, Philosophie und Musik, aber er ist ein Einzelgänger, der sich die meiste Zeit damit blendet, dass es die anderen nicht wert sind, dass man sich auf sie einlässt. Splendid isolation, sollte man meinen, aber dem Mann geht es gar nicht gut, er ist krank, lebt in Verhältnissen, die seinen Ansprüchen hohn sprechen (die gute Stube des Kleinbürgers), und da er keine Freunde hat und seine Geliebte ihn nur alle halbe Jahre sehen möchte, hat er niemanden, dem er seine inneren Erlebnisse mitteilen könnte. Es geht also ein bisschen absurd zu beim Steppenwolf, Hass auf die bürgerliche Gesellschaft schlägt schnell um in Selbsthass, und so nimmt es nicht wunder, dass auch mal an Selbstmord gedacht wird. An seinem 50. Geburtstag soll es ihm freistehen, Schluss zu machen, bis dahin heißt es: weitermachen wie bisher. Dem Steppenwolf ist also die Strategie des Lebens abhanden gekommen. Er ist im Musil’schen Sinn einer, der sich nur noch selbst mitmacht und eine Schicht über die nächste zieht. Dabei lauern ja wie gesagt im Inneren noch ganz andere Schätze, die den Vorteil hätten, die Teilseele an das konkrete Leben anzubinden. Während bei Faust noch die Erhabenheit der Kirchenglocken die Änderung bewirken, ist es beim Steppenwolf die Frau, die Lebensboheme, die den Entschalungsprozess der frigiden Zwiebel initiiert. Haller kommt unter Leute, lernt zeitgenössische Musik kennen, ist plötzlich ganz scharf aufs Tanzen und verliebt sich sogar. Immer wieder versucht der alte Bildungsbohemien, verlassenes Terrain zurückzugewinnen, gute Musik von schlechter Musik abzugrenzen, aber bald wird er auch initiiert in modernes Funktionsdenken, das alte Kategorien über Bord wirft. Die Daueraskese Hallers zerbricht, natürlich spielen auch Drogen eine Rolle, und erst als auch der große Gott Mozart in den heiligen Hallen des schönen Wahns auftritt und das humorige Genie gibt, merkt Haller, wo der Hase lang läuft, und er akzeptiert das Leben, wie es ist, freut sich aber schon auf das nächste, wo er von Anfang an besser integriert sein wird. Hermann Hesse ist definitiv ein Jugendbuchautor. Später wird man sich an der Sprache stoßen, die herbeipoetisiert ist. Auch die Selbstkritik Hallers vollzieht sich im selben Duktus. Es ist, als ob der Somnambulismus nur um einen minimalen Verdunkelungswert verschoben sei. Ein Nietzsche-Fettgurt verdickt die Lektüre. Man hat noch nicht einmal Mitleid mit der Hauptperson. Dieses Buch ist sehr altmodisch geworden. Und ganz rätselhaft ist, was die Gruppe „Steppenwolf“ zu dieser Namensadaptation getrieben hat, denn wild ist dieser Steppenwolf gar nicht. Hier wird eher auf das nächste Los gewartet, in aller Ergebenheit.

 

Dieter Wenk (05.06)

 

Hermann Hesse, Der Steppenwolf. Erzählung, Frankfurt am Main 1974 (STB)