2. Juni 2006

Die Welt ist schon genug

 

Wenn Gott einen guten Produzenten gehabt hätte, wäre der Welt manche Katastrophe erspart geblieben. Allmachtsfantasien wie diese gedeihen in der Filmbranche besonders gut. Hier mal ein Weltuntergang, dort ein Dinosaurier – Die Welt ist alles, was finanzierbar ist. Produzenten ziehen die Fäden hinter den Kulissen, loben und strafen, beschaffen das Geld für den Dreh, kurz: Sie spielen sich auf wie der Schöpfergott persönlich. Erst wenn die Katastrophen, die sie für ihre Filme konzipieren, auf sie selbst danieder prasseln, geraten sie in Zweifel über ihre gottgleiche Macht. Martin Page hat über eine solche Bauchlandung seinen neuesten Roman verfasst. Vom Karrieristen der Medienbranche zum privaten Romantiker geht die Entwicklung seines Helden.

 

„Dabei hatte alles ganz gut angefangen: Du hattest nichts, und du warst niemand.“ Mit diesen Worten beginnt der Roman. Dann aber fällt der Spot auf Elias Carnel. Alle Blicke richten sich auf ihn. Im ehrwürdigen Pariser Athénée-Theater wird dem 28-jährigen Filmproduzenten der Artemis-Preis überreicht und er hält eine ergreifende Rede über Gott und die Produzenten und dass der eine ohne den anderen eben Mist baut. Was nicht heißt, dass der andere es alleine besser macht. Elias, der nicht zufällig mit dem Namen des biblischen Propheten ausgestattete Romanheld, wirft den Preis in die Seine. Das ist der Auftakt zu einer turbulenten Woche voller Weltuntergänge, die auf ihn einstürzen. „Um es kurz zusammenzufassen: Meine Freundin hat mich vor ein paar Tagen verlassen, nachdem sie mich ein halbes Jahr betrogen hat. Ein Freund hat mir das Gesicht demoliert, ein anderer hat mich daraufhin in die Pfanne gehauen, während seine Frau versucht hat, mit mir zu schlafen. Ich habe aufgehört zu rauchen, und ich müsste aufhören zu trinken. Das ist wirklich keine gute Woche für mich.“ Das ist die Kurzversion, die der Held später zum Besten gibt.

 

Die neuere Literatur liebt Katastrophen, auch in Frankreich, und nicht nur bei Houllebecq. Menschliche Apokalypsen verkaufen sich gut. Doch wie der schöne Titel des Buchs „An Weltuntergänge gewöhnt man sich“ schon suggeriert, ganz so schlimm wird es bei Page nicht. Denn Elias macht eine Kehrtwende durch. Er merkt, dass das Glück verschimmelt, wenn man es hortet wie ein geiziger Rentner Rabattmarken. Der Glamour der Kinowelt verliert seinen Glanz. Doch vor der heilsamen Katharsis muss er zunächst einmal einige schmerzhafte Wahrheiten über sich selbst erfahren. Feigheit lautet die vernichtende Diagnose. Er befasste sich mit (Film-)Geschichten von anderen, um selbst im Schatten zu bleiben. Vor seiner alkoholkranken Freundin wollte er sich als Retter aufspielen. Mit Liebe hatte das wenig zu tun. In diese etwas zu einfache Selbstwerdungsgeschichte baut Page wunderbare Skurrilitäten ein. So wird ein Detektiv, der auf Elias angesetzt ist, von ihm abgeworben, da er mehr über sich selbst erfahren möchte. Seine neue große Liebe ist eine notorische Selbstmordkandidatin, deren Leben ursprünglich als Filmstoff herhalten sollte. Auch für ein Happy End ist sich der Autor nicht zu schade. Der tragisch absurde Bildungsroman einer Desillusionierung wendet sich am Ende zur Komödie.

 

Page ist ein versierter Erzähler. Je nach Seelenlage seines Protagonisten wechselt er die sprachlichen Register. Mal großkotzig und besserwisserisch, mal selbstkritisch und philosophisch. Der 30-jährige Autor ist sich selbst sein bester Produzent, ein penibler Perfektionist, der noch kurz vorm Druck Verbesserungen an seinen Texten vornimmt. Er liebt Shakespeares „Hamlet“. Die Liebe, den Wahnsinn, den Scherz. Lachen, weinen und zittern soll man beim Lesen.

 

„An Weltuntergänge gewöhnt man sich“ ist das vierte Buch des Autors, der nach eigenen Angaben gerne kocht, Regenwetter liebt und den peinlich normalen Hobbys frönt wie Musik hören und ins Kino gehen. 2001 gelang dem „Woody Allen der jungen französischen Literatur“ der Durchbruch beim ambitionierten Pariser Kleinverlag „Le Dillettante“. Sein Debütroman „Antoine oder die Idiotie“ war in Frankreich ein großer Erfolg und wurde in 29 Sprachen übersetzt. Seitdem lässt ihn die Satire nicht mehr los. Die hohle Kunst- und Medienwelt ist sein Terrain. Wurde ihm von der Kritik bisher noch ein zu Viel an Moralinsäure und stereotypem Vorurteil vorgeworfen, sein neuer Roman ist differenziert und dabei nicht weniger bissig als seine Vorgänger.

 

„Die Welt des Kinos bot mir die meisten metaphorischen Möglichkeiten“, erklärt der Cineast Page die Idee zu seinem Roman. Aber es ist nicht nur ein Buch über die böse Filmbranche, ein gut recherchierter Medienroman und ein Buch über ein regengraues Paris geworden. Page interessiert die Gesellschaftskritik im Kleinen: Wie das System den Einzelnen korrumpiert, Freundschaften zerbricht und Beziehungen zur Hölle macht. Die Filmwelt bietet dazu eine glänzende Folie. Nirgendwo sonst wird Ehrgeiz, Machtbedürfnis und Intrige derart zelebriert.

 

Mit seinen geistreich kritischen Romanen ist Page zum Sprecher einer jungen Generation geworden. Die Studentenproteste in Frankreich sind Ausdruck derselben Kritik an der Fixierung aufs Materielle und eine Besinnung auf das Wesentliche. Was in Deutschland sich in Abwehr zur Globalisierung als neuer Konservatismus geriert, das hat in Frankreich noch emanzipatorische Effekte. Aber was ist das Gegenkonzept zu der oberflächlichen Warenwelt? Freundschaft und Liebe? In Pages Roman heißt es gegen Ende: „Wir müssen nur versuchen, die glücklich zu machen, die wir lieben, und es zulassen, wenn auch sie uns glücklich machen wollen. Das ist nicht einfach, und keine Philosophie oder Religion hilft uns dabei, sondern nur unsere zarte, unverbrüchliche Fähigkeit zu lieben.“ Ist das Kitsch? Ja, unbedingt. Die Sprüche und Weisheiten, von denen es im Roman wimmelt, changieren allerdings trickreich zwischen Ernst und Ironie. Es ist wie bei Harald Schmidt. Jeder findet seine eigenen Lacher. Je nach Lesart werden auch „Amelie“-Freunde das Buch mögen. Sie glauben im Gegensatz zu Page aber wohl eher, dass Gott damals doch ein Produzent zur Seite stand.

 

Gustav Mechlenburg

 

Martin Page: An Weltuntergänge gewöhnt man sich, Wagenbach 2006

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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