1. Juni 2006

Reise in einem Zimmer

 

Schreibbewegungen oder Schreibmaschinen-/Tastaturanschläge bringen Buchstaben und Wörter hervor. Was diese zu lesen geben, generiert vielleicht genau die Situation, von der die Wörter zeugen. Man kann nicht hinter die Wörter schauen, um zu sehen, ob man ihnen trauen darf. Es sei denn, es liegt erst gar kein Grund vor, ihnen nicht zu trauen. Diesem kleinen Roman ist ein Spruch vorangestellt, der sich wie eine Warnung liest. Er stammt von Rousseau und lautet sinngemäß, dass all das, was in einem Park zu sehen ist, natürlich anmutet, bis auf die Zusammenstellung. Die Parklandschaft, die der Leser betritt, ist also eine Wortlandschaft, ein Kompositum schöner und pittoresker Orte, die aus verschiedenen Ländern, so sagt es Rousseau, zusammengetragen ist. Der Roman setzt ganz real ein. Ein anscheinend junger Mann bewohnt ein Appartement in einem fünften Stock, es gibt einen Balkon, von dem aus sich bequem und ohne dass man selber gesehen wird in die Wohnungen des gegenüberliegenden Hauses schauen lässt, in denen reiche und schöne Frauen sich an- und ausziehen, Ehepaare miteinander plaudern und Partys gegeben werden. Irgendwann wird der namenlose junge Mann ausgehen, etwas später nimmt er den Entschluss zurück. Er braucht nicht hinauszugehen, eigentlich fehlt ihm nichts, er hat alles bei sich, Schreibpapier, Füller, Vorstellungskraft und Erinnerung. Er trägt Pantoffeln, aber nur kurz hält man ihn für einen Pantoffelhelden, denn irgendwo liegen Medikamente herum, der junge Mann ist krank. Spätestens an dieser Stelle darf der Leser mal an Marcel Proust denken. Und natürlich an Alain Robbe-Grillet, beide Namen scheinen sich gegenseitig einzurahmen. Zwei Jahre vor dem „Park“ war Robbe-Grillets „Dans le labyrinth“ erschienen, eine Einübung des Lesers in labyrinthische Strukturen, die mit dem Text identisch waren. Sollers’ Verwirrspiel mit dem Leser läuft allerdings anders. Anders als bei Robbe-Grillet gibt es eine Basisstation, die Wohnung, von der alle Ausflüge ihren Ausgang nehmen. Die „Kommode“ bleibt gewissermaßen immer am gleichen Ort, während sie bei Robbe-Grillet an verschiedene Orte wandert und dort immer in leicht veränderten Konstellationen beschrieben wird. Sollers geht außerdem über bloße Wahrnehmungen hinaus. Es gibt, von Anfang an, Rückblenden, solche in die eigene Kindheit, in gemeinsame Reisen mit anderen, schnell tauchen ein „il“ und eine „elle“ auf, namenlos wie der Erzähler, in deren Welt der Leser so schnell eintaucht, wie er wieder aus ihr herausgeworfen wird. Manchmal geschieht das mitten im Satz. Oder man merkt, dass man jetzt definitiv in Fantasiertem angekommen ist. Dann liest man wieder von der Kommode, auf der vielleicht ein Stoß Papiere liegt oder ein Atlas, Ausgangs- und Ankunftsort der Fantasie. Der Ton des Romans ist betont sachlich, wie man das aus dem Nouveau Roman kennt. Aber anders als in Robbe-Grillets „La jalousie“ erfährt die anscheinende Objektivität durch die minimale Abweichung in der Wiederholung des Beschriebenen keine obsessive Marke. Dieser Park ist eher wieder eine Annäherung an das Erlebnis eines Artefaktes als „l’art pour l’art“. Der Erzähler genießt sein Schreiben. Er verliert sich in den Worten, die ihn zu Sätzen treiben, die nur ihm zu gehören scheinen. Universale verbale Aneignung. Die Anschauung läuft in den Text zurück, in den Akt des Schreibens, man ist in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Und natürlich in Frankreich. Sollers hat einen untrüglichen Instinkt für die Duftmarken literarischer Spuren, denen er konsequent folgt. Was sich auf den ersten Blick als radikal gibt, ist im Grunde nur die momentane Festlegung auf einen Stil oder ein spezifisches Amalgam, das auf Dauer etwas öde anmutet. Er hat alle Moden mitgemacht. Sollers, ein Dauerzitat.

 

Dieter Wenk (05.06)

 

Philippe Sollers, Le Parc. Roman, Paris 1961 (Éditions du seuil); P. S., Der Park, deutsch von Elisabeth Schneider, Frankfurt am Main 1963 (S. Fischer)