30. Mai 2006

Rauch überall

 

 

Pascal ist eigentlich ein ganz normaler Junge. Er geht zur Schule, ist beliebt, wird zum Klassensprecher gewählt, die Mädels stehen auf ihn, er spielt Computer. Eine „Coming-of Age“-Idylle. Nur die Stadt, in der er wohnt, ist nicht so ganz normal und wirkt bedrohlich: Alles ist von schwarzem Rauch eingehüllt, sodass man beim Lesen eine Taschenlampe braucht und das Gesicht des anderen nie so ganz genau erkennt. Aber eigentlich ist man ganz froh, hier zu wohnen. Denn draußen, vor den Toren der Stadt, beginnt die Wildnis, wo die minderwertigen Insekten in Hütten hausen. Dass es aber da draußen eigentlich gar nicht so schlecht ist, erkennt Pascal, als er mit seinen Eltern „Verwandte“ besucht, unbeschwert über Wiesen läuft, Drachen steigen lassen und „Insektman“-Comics lesen kann. Dann fällt eines Tages vor den Augen seiner Klassenkameraden Licht auf Pascals Gesicht. Und es zeigt sich: Pascal ist doch nicht so ein ganz normaler Junge. Er ist ein Insekt. Von da an wird sein bisheriges idyllisches Leben die Hölle.

 

Eine Parabel auf Alterität und Intoleranz? Auf gegenwärtige Zustände an nicht nur deutschen Schulen? Eine „Coming-of-Age“-Geschichte in Comicform? Das Debüt des Hamburger Comic-Künstlers Sascha Hommer, Jahrgang 1979, ist all das. Aber liegt es an der wenig überraschenden „Lehre“, dem bald vorhersehbaren Konflikt zwischen dem Insekt Pascal und seinen menschlichen Kameraden, an der Ausgangssituation, die in ihrer Stadt-Wildnis-Dichotomie sehr an „Schöne neue Welt“ erinnert, oder ist es die immer geradlinige, aber manchmal etwas zu ausführliche und daher langatmige Erzählweise – so recht überzeugt „Insekt“ nicht. Dabei gelingen Hommer, dessen Stil sowohl etwas von der Klarheit neuerer US-Comics sowie von der Holzschnitthaftigkeit der Mangas hat, immer wieder sehr eindrucksvolle Bilder: wenn die auf den ersten Blick so niedlichen Kinder mit ihren Pokemon-Kulleraugen Pascal an einen Baum binden und erniedrigen, wenn es in der apokalyptischen Atmosphäre der Stadt zu einem Moment stillen Kinderglücks kommt, als Pascal im dichten Rauch seinen Drachen steigen lässt, oder in der ergreifenden Schlusssequenz. Der Gegensatz Stadt/Wildnis, der erzählerisch bald an Spannung verliert: Im Zeichenstil, der dem Schwarz-Weiß-Kontrast der Bilder eine visuell spannende Facette abgewinnt, ist er erfindungsreich und überzeugend umgesetzt.

 

Bei allen Einwänden ist Sascha Hommers „Insekt“ ein bemerkenswertes Debüt: aktuell, innovativ und ergreifend – und es beweist, dass sich die Comicszene hier zu Lande nach langen Dürrejahren vor internationalen Vergleichen nicht mehr zu scheuen braucht.

 

Thomas von Steinaecker

 

Sascha Hommer: Insekt. Reprodukt-Verlag 2006

 

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