15. Mai 2006

Dein Star, der Borderliner

 

Was hatten Karl May, Sid Vicious, Lady Di und Kurt Cobain gemeinsam? Sie litten unter der gleichen psychischen Krankheit, behauptet der Autor Borwin Bandelow. Seine Diagnose lautet: Persönlichkeitsstörung.

Bandelow, als Professor Dr. med. und Diplom-Psychologe an der psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen überaus kompetent, untersucht in seinem unterhaltsam geschriebenen Buch „Celebrities“ die Lebensgeschichten von Prominenten aus Musik, Literatur, Film und Showbusiness.

Sexskandale, Drogenexzesse, Verschwendungssucht, Gewalt, Depressionen oder Suizide begleiten das Leben von Stars allzu oft. Ist es Zufall, dass viele von ihnen seelische Probleme haben? Sind Ausschweifungen, Süchte und Tragödien nur die Kehrseite des Triumphes oder deren Voraussetzung? Bandelow untermauert ein offenes Geheimnis unserer Zeit: Viele Stars sind (oder waren) Borderliner im klinischen Sinne. „Nicht nur trotz, sondern gerade wegen ihrer psychischen Störungen, sind sie überragende Künstler geworden.“

 

Der Begriff „Persönlichkeitsstörung“ wird von Psychiatern in drei Kategorien unterteilt: die ängstliche, exzentrisch-sonderbare und die dramatisch-emotional-launische Persönlichkeitsstörung. Diese wiederum werden in insgesamt neun Untergruppen eingeteilt. Berühmte Künstler besitzen oft narzisstische, histrionische, Borderline- und antisoziale Störungen.

 

Das einführende Fallbeispiel übertrifft alle anderen an Härte: Sid Vicious, ehemals Bassist bei der Punkband Sex Pistols, wird zum exemplarischen Fall des Über-alle-Grenzen-Gehenden. Sid war der Sohn einer allein erziehenden Heroinabhängigen. Sein Selbsthass führte dazu, dass er sich oft Verletzungen zufügte und Angst vor Menschen und Sex hatte. In der heroinabhängigen Prostituierten Nancy Spungen fand er dennoch seine Geliebte. Später erstach er sie mit einem Messer, legte ein Geständnis ab und verendete drei Monate danach an einer Überdosis Heroin. Ob es ein Unfall war oder Suizid, blieb ungeklärt. Sid wies alle Symptome und Verhaltensweisen einer Persönlich-keitsstörung auf.

 

Doch Bandelow, der 2004 den Bestseller „Das Angstbuch“ veröffentlichte, schildert auch die Lebenswege unbekannter Patienten. Die Ursachen für derartige Störungen liegen – ob bei Stars oder Unbekannten – in zerrütteten Familienverhältnissen, Suchtproblemen der Eltern und sexuellem, emotionalem oder sozialem Missbrauch .

 

In den Betrachtungen bekannter Show-Größen erfährt man nebenbei, dass Marvin Gaye („Sexual Healing“) ein Bettnässer war und ihm der Vater das Tragen ärmelloser Kleider verbot. Und dass Michael Jackson für 150.000 Dollar bei einem Häuptling in Mali einen Voodoo-Fluch gegen seine ärgsten Feinde ausrichten ließ, für den er ein Bad im Blut von 42 extra geschlachteten Kühen nahm. Dem einstigen „King of Pop“ sind elf Seiten gewidmet, Kurt Cobain halb so viel.

 

Immer auch der Faszination dieser schillernden Figuren erlegen, tastet sich Bandelow an den Fakten der Lebensgeschichten entlang und entlarvt den Glamour als verklärenden Schein. Dabei ist der Autor weniger Fan, denn mitgerissener Psychologe, der die Fährten der Abstürze zu lesen und einzuordnen versteht.

 

Kurze Listen von Rockstars, die von der Schule flogen, verhaftet wurden oder an den Folgen ihrer Alkohol- und Drogensucht starben, vervollständigen das kleine Kompendium über das autoaggressive Zerstörungspotential der Stars. Whitney Houston, Marilyn Monroe, Klaus Kinski, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Mariah Carey, Robbie Williams und Billie Holiday: Ihre Psychen werden geröngt und analysiert, ihre Lebensgeschichten zur Triebfeder ihrer Erfolgssucht stilisiert. Auch König Ludwig II. von Bayern wird als wütender, sozialphobischer Borderliner geoutet. Als Beispiel für einen Narzissten dient u. a. Thomas Mann, der am Tage des Atombombenabwurfs in Hiroshima lediglich „Einkauf weißer Schuhe“ in sein Tagebuch eintrug. Courtney Love, die Frau des verstorbenen Kurt Cobain, als „Universaldilettantin“ und „völlig talentfrei“ zu bezeichnen, ist ein unfairer Affront, der dem Buch schadet.

 

Spätestens auf Seite 246 beschleicht den Leser das ungute Gefühl, der Autor selbst habe einen Borderline-Diagnose-Zwang: Nicht nur Lady Di, Prinzessin Diana, habe eine Borderline-Persönlichkeits-Störung gehabt, sondern „(...) auch die anderen Insassen des schweren (im Tunnel verunglückten) Mercedes hatten möglicherweise eine Borderline-Persönlichkeitsstörung.“ Das Unglück entpuppe sich, so Bandelow, als „kollektiver Borderline-Unfall“. Existiert das Normale nur noch als kaum erreichbarer Maßstab in der Vorstellungswelt von Psychologen?

 

Dieses Buch rät Erkrankten zur Kreativität. Nicht nur, weil es besser ist, ein berühmter Borderliner zu sein als ein unbekannter. Man fragt sich: Ist ein weiterer Band über die Psyche von Politikern und Wirtschaftsbossen geplant?

 

Carsten Klook

 

(Dieser Artikel erschien in anderer Version in der Financial Times

Deutschland vom 24. April 2006)

 

Borwin Bandelow: Celebrities – Vom schwierigen Glück, berühmt zu sein, Rowohlt, 288 Seiten, 16.90 Euro

 

 

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