14. Mai 2006

Private Relikte und öffentliche Verheizung

 

Zwei oder drei Dinge scheint es zu geben, die noch nicht als Schnäppchen verhandelt werden. Liebe, Zeit, Genuss, Dinge eben, die sich einer reinen Quantifizierung widersetzen. Während nun aber auch Geilheit unter einem strikten Knappheitsregulativ angepriesen wird, womit Bataille sicherlich seine Schwierigkeiten gehabt hätte, scheint es nur logisch, dass in Zeiten des „emotionalen Kapitalismus“ (Illouz) all das, was zumindest von einer Seite einmal ins Unendliche verwies, einer überschaubaren Abzählbarkeit unterworfen wird. Der Topos der Unsagbarkeit hat denn auch an Glaubwürdigkeit eingebüßt, und dort, wo man noch auf ihn zurückgreift – zum Beispiel der Stürmer, der ein Tor geschossen hat und nachher gefragt wird, wie er sich dabei fühlte – merkt man schnell, dass dieses Kapital mittlerweile aufgezehrt ist. Eva Illouz skizziert in ihren Adorno-Vorlesungen von 2004 rasch, von wo diese Tendenz auf Messbarkeit auch im Gefühlshaushalt ihren Ausgang genommen hat. Der Kapitalismus forderte nicht nur eine Optimierung des bloßen Produktionsprozesses (Stichwort Fordismus), sondern auch eine Berücksichtigung des menschlichen Faktors, den man immer weniger unter streng charakterologischen Gesichtspunkten stehend dachte als vielmehr als Drehpunkt zunehmend flexiblerer personaler Evaluierungen. Dies setzte zweierlei voraus: Das Verhalten des Arbeiters (im weitesten Sinn) lässt sich testen, diagrammatisieren, und es lässt sich verändern, also auch verbessern. Die Psychologie hielt Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur Einzug in die medizinische Therapeutik, sondern auch in die Unternehmenskultur. Der Kommunikationsbegriff begann hier seinen Siegeszug quer durch das Jahrhundert. Die Transparenz der Welt erfolgte durch den massiven Einsatz von Fragebögen. Gleichzeitig begannen die durch diese erwirkten Veränderungen eine Aufweichung der bislang strikt zu verfolgenden Trennung der Geschlechtergrenzen. Dem Mann (Unternehmer, Manager) wurde empfohlen, zuzuhören, als Moderator zu agieren, während Frauen begannen, sich wie Männer zu verhalten und die Zeit der Emanzipation einläuteten. Die Durchsteppung des gesamten emotionalen Bereichs durch Quantifizierung trug mitunter seltsame, wenn auch klar erkennbare Früchte. So begann etwa der therapeutische Diskurs aus seiner eigenen Logik heraus Standards zu setzen, die auf der einen Seite Modelle der Gesundheit oder Zufriedenheit in die Welt setzten, auf der anderen Seite aber durch eben diese Setzung stigmatisierend auf eben die wirkten, die diesen (kontingenten) Modellen (noch) nicht folgten. Die mittlerweile erreichte Menge an Ratgeberliteratur gibt gleich mit zu bedenken, dass aus bloßer Quantifizierung nichts folgt; erst die Anbindung an spezielle ideologische Überhöhungen gibt dem Kunden das Gefühl, mit „seinem“ Programm zu tun zu haben. Eva Illouz stellt die Frage, wie viel Privatheit überhaupt noch übrig bleibt bei so viel Öffentlichkeit und Veröffentlichung. Am Beispiel der Internet-Kontaktmärkte zeigt sie die Schwierigkeit auf, den richtigen Partner zu finden. Durch Fragebögen wird die Persönlichkeit quasi eingelesen, um ein Profil zu erstellen, das überhaupt erst Kompatibilitäten ermöglicht. Ähnliches führt zu Ähnlichem. Dann gibt es die ersten E-Mails, erste Telefonate, dann ein erstes Treffen. Die meisten Teilnehmer, so die Autorin, sind enttäuscht von diesen Treffen. Die reale Person entspricht nicht den Erwartungen. Die ausgewählte Person ist hässlicher als das Foto, der Händedruck zu lasch oder zu fest. Man muss noch mal von vorn anfangen. Die romantische Begegnung verläuft genau umgekehrt: Man weiß erst mal überhaupt nichts über den Menschen, der einem wie ein „coup de foudre“ begegnet, das Herz höher schlagen lässt usw. Die romantische Begegnung ist primär eine Begegnung der Körper, die sofort ein Begehren auslöst, was immer man auch damit macht. Die Internet-Begegnung beginnt als Text (Profil + Foto), der Körper wird nachgereicht. Was Eva Illouz nicht weiter verfolgt: Der Internet-Nutzer wartet bei der konkreten Begegnung nach der abstrakten Phase des Datenverkehrs auf eben jenen Blitzschlag, den er durch die Quantifizierungspotenziale des Internets glaubt vergrößern zu können. Die Romantik ist also gar nicht beseitigt durch das Standardisierungsverfahren, sie wird nur etwas nach hinten verschoben im Prozess der evaluativen Begegnungsausrichtung. Ganz ausgeblendet wird bei Illouz die immer auch mögliche Enttäuschung des Romantikers, dessen desillusionierender Weg maßgeblich von Stendhal in seiner Theorie der „Kristallisation“ beschrieben wird, wobei Stendhal im Grunde nur das in zeitlicher Ausdehnung situiert, was der Internet-Nutzer instantan bei der Gegenüberstellung merkt, nämlich, dass es „das nicht ist“. Wir haben hier also gegenläufige Aufbau- und Abbauzeiten romantischer Gefühle, und das ist in der Tat etwas, das auf die primäre Virtualisierung unseres Zeitalters deutet. Wir müssen uns erst an dem quantifizierten Stellvertreter abarbeiten. Dann gibt uns der Avatar die Sicht frei auf das vermeintliche Original, dem es mit uns genau so geht, und es ist nur zu hoffen, dass das Internet-Vorspiel der Person so viel von sich mitgegeben hat, dass es auf diese abfärbt und etwas von sich mitgibt. Genau diese mediale Prozedur beschreibt Clemens Brentano in seinem „Godwi“ aber als romantisch. Was für eine Ironie!

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Eva Illouz, Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Adorno-Vorlesungen 2004, aus dem Englischen von Martin Hartmann, Frankfurt am Main 2006 (Suhrkamp)

 

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