13. Mai 2006

Interna

 

Im Laufe der Zeit hat der Begriff des Selbstbewusstseins eine psychologische Wendung erfahren. An die eminente Stelle, die das Selbstbewusstsein in Fichtes transzendentalem Idealismus einnahm, erinnert im heutigen Sprachgebrauch nichts mehr. Kein Bewusstsein ohne Selbstbewusstsein, hieß es bei Fichte. Letzteres entstehe durch freie Setzung: Es setzt sich als sich setzend. In seiner Wissenschaftslehre versucht Fichte zu zeigen, dass dieser Satz tatsächlich ein erster Satz ist, auf den jedes auf sich selbst reflektierende Wesen kommen müsse. Fichte spricht dabei nicht vom konkreten Individuum, sondern vom „Ich“, so wie es die Vernunft vorschreibt. In diesem Fragment gebliebenen Text nimmt Fichte den willigen Leser an die Hand und stellt ihm Fragen, die der Autor an Stelle des Lesers beantwortet. Prinzipiell sind die Positionen austauschbar, denn es ist die Sache selbst, die den Frage-Antwort-Parcours vorgibt. Wenn Fichte den Leser das „Ich“ denken lässt, dann folgt daraus natürlich etwas anderes, als wenn ein Sprechakttheoretiker dieselbe Aufforderung ergehen lässt mit dem vermutlich zu erwartenden Ergebnis, dass nicht klar ist, was damit gemeint sein soll, „Ich“ zu denken, wenn Ich sprechakttheoretisch eigentlich nur ein Shifter ist. Die Handlungselemente der Sprechakttheorie sind bei Fichte ganz in das Ich zurückgefahren. Auf einem ganz abstrakten Niveau ist das Ich etwas, das im Bewusstsein von sich selbst ausgeht und auf sich selbst zurückgeht. Das Ich, das Bewusstsein ist reflexiv. Das heißt, es ist Subjekt und Objekt zugleich. Es ist Vorstellendes und Vorgestelltes. Da die beiden Seiten des Ich aber nicht isoliert im Bewusstsein vorliegen, sondern aufeinander bezogen und voneinander unterschieden werden, kann dieser Bezug immer wieder neu zum Thema gemacht werden, ohne dass ein Ende abzusehen wäre. Das Reflektierende wird selbst zum Reflektierten und so weiter. Um diesen drohenden unendlichen Regress abzuwenden, der verhindert, dass das Ich zur Ruhe kommt und tatsächlich eine Vorstellung hat (und sei es von sich), postuliert Fichte ein Ich, das beides zugleich ist, Subjekt-Objekt. Dieses Gebilde kommt nach Fichte durch einen freien Akt zustande. Es ist eine Art Autogenese. Die Funktion dieser Konstruktion ist vergleichbar mit dem Einsetzen des lieben Gottes bei Descartes, der die Aufgabe übernimmt, das Subjekt davon zu überzeugen, das der böse Geist nicht das letzte Wort hat. Descartes’ „cogito“ brauchte noch eine transzendente Begründung. Fichte baut alles ins Ich ein. Das Ich, genau so wie das Nicht-Ich. Aber er ist kein Solipsist. Es gilt sogar umgekehrt, dass das erkenntnistheoretische Moment nur den Anlass dafür abgibt, in einer Art Parallelmontage die praktische Seite im Ich zu verankern. Fichte geht Freiheit über alles. Aber es ist keine anarchistische Freiheit, keine bequeme Freiheit von Individuen, die noch etwas länger Urlaub machen wollen. Ganz kantianisch ist die Freiheit an das Sittengesetz gebunden, die Vernunft bestimmt die freie Handlung, von der man empirisch nie wissen kann, ob sie aus Freiheit geschehen sei. Der Fichte’sche selbstbewusste Mensch strotzt nicht vor Selbstbewusstsein, er ist individualistisch eigentlich ganz klein, weil sein Leben nach einem Bereinigungsprogramm ablaufen soll, an dessen Ende der jeweilige ideale Mensch steht. Schillers Sprung in die Ästhetik wird vor diesem Sittlichkeitspensum nur zu verständlich.

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797), in: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. 1, zur theoretischen Philosophie I, Berlin 1971 (Walter de Gruyter & Co.)