12. Mai 2006

Beobachtung des absoluten Ich

 

Vielleicht war es Fichte, der die Figur des Beobachters in die Philosophie eingeführt hat. Er kennt sogar die für die Systemtheorie später bedeutsame Unterscheidung mehrstufiger Beobachtungen: Im ersten Abschnitts von Fichtes „Zweiter Einleitung in die Wissenschaftslehre“ heißt es lapidar: „In der Wissenschaftslehre giebt es zwei sehr verschiedene Reihen des geistigen Handelns: die des Ich, welches der Philosoph beobachtet, und die der Beobachtungen des Philosophen.“ Die, so könnte man ergänzen, natürlich auch wieder beobachtet werden. Fichtes Erkenntnistheorie, seine Wissenschaftslehre, ist ja in erster Linie Handlungstheorie. Was immer man zur Stichhaltigkeit seiner „Deduction“ sagen mag, die oberste Stelle seines Systems nimmt kein Axiom ein, sondern ein Tun, in Fichtes Worten: die „Thathandlung“, die kein Objekt voraussetzt, sondern dieses selbst hervorbringt, nämlich das Ich, das sich in einem freien Tun selbst setzt. Für Fichte ist das Ich kein passiver Behälter, der etwas von außen empfängt, vielleicht sogar in diesem Moment des Affiziertwerdens überhaupt erst von sich selbst erfährt. Fichte setzt das Ich absolut. Da wir nicht bei den Dingen sein können (schon gar nicht bei den Dingen an sich, die nur für uns sind in Form von Vorstellungen, die das Ich auf sich selbst und auf etwas bezieht, was es nicht selbst ist, das Nicht-Ich), bleibt uns keine andere Wahl, als den Innenraum möglichst genau auszusondieren. Beherrscher und Begründer dieses Innenraums ist das Ich, ohne das gar nichts wäre. Das vom Philosophen beobachtete Ich ist also ein reines Tun. Die Genese dieses Ich interessiert Fichte nicht. Es muss schlicht da sein, damit auch ein Philosoph es beschreiben kann. Und dieses Ich macht nichts anderes, als sich selbst zu setzen. Die Beobachtung läuft also auf eine Voraussetzung hinaus, die aber unverzichtbar ist für den Fall, dass das Ich als freies zu denken sei. Hier liegt Fichtes doppelter Idealismus. Zum einen in der konsequenten Nachfolge Kants, an dessen „ich denke“, das „alle meine Vorstellungen begleiten können muss“, sich Fichte anschließt. Fichte ist transzendentaler Idealist. Zum anderen in Fichtes emphatischem Handlungsbegriff, der die Stelle bezeichnet, an dem sich zwei Welten, nämlich die sinnliche und die intelligible, vereinigen. Fichte vereinigt Kants reine und praktische Vernunft mittels „intellektueller Anschauung“ im reinen Ich, das ein bloßes Tun ist. Das Ich ist aufgefordert, alles mit sich selbst abzumachen und allem seinen Stempel (Vernunft) aufzudrücken. Für den Menschen gibt es nur eine Perspektive: handeln nach dem Sittengesetz. Das ist letztlich die einzige Beobachtung, die der Philosoph an die des Ich anschließen kann. Was dem Tier sein Instinkt, das sei dem Menschen seine Vernunft. Das ist zugleich Fichtes Beitrag zur Bildungsdiskussion seiner Zeit. Während Wilhelm von Humboldt etwa an die gleichzeitige Ausbildung aller Kräfte des individuellen Menschen denkt, einschließlich der „bösen“, findet sich bei Fichte nur eine Instanz, die zwar durch Freiheit gezeichnet sei, die aber immer nur das eine aufzusagen imstande sei: das Leben als totales sittliches Leben, geformt nach dem kategorischen Imperativ. Das ist gewissermaßen die stalinistische Seite Fichtes. Und das Konzept des doppelten Beobachters läuft dann doch auf etwas sehr anderes hinaus als später bei Luhmann, und die Figur der absoluten Begründung, die Fichte glaubte, bloß beobachtet zu haben, weil sie geschieht und geschehen muss, wird ja gerade mit dem späteren Beobachtungsbegriff unterlaufen.

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Johann Gottlieb Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), in: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. 1, zur theoretischen Philosophie I, Berlin 1971 (Walter de Gruyter & Co.)