11. Mai 2006

Der große Magen der Immanenz

 

Keine einzige wissenschaftliche Disziplin wartet noch auf die gute alte Philosophie, um sich von dieser ihre Grundsätze deduzieren zu lassen. Jede ist sich selbst die nächste. Dabei hatte die Philosophie am Ende des 18. Jahrhunderts noch einmal so erwartungsvoll angesetzt, zumal in Deutschland. Sie erwachte aus ihrem dogmatischen Schlummer und wurde kritisch. Die Vernunft kritisierte sich selbst. Ging in und auf sich selbst zurück. Nach Johann Gottlieb Fichte gab es überhaupt nur zwei mögliche philosophische Positionen, auf der einen Seite die Dogmatiker, die sich im direkten Kontakt mit dem Ding an sich glaubten, und die Idealisten im Gefolge Kants, für die das Ding an sich kein Bestimmungsgrund des Ich sein konnte. Die eine Seite machte die Welt stark, die andere das Ich. Fichte wollte beides, im Ausgang des Ich. Für ihn bedeutete der Dogmatismus nicht nur eine Position, die man einnehmen konnte, sondern auch eine besondere Haltung, die es zu denunzieren galt. Der Dogmatiker war schlaff, er hatte den Dingen nichts entgegen zu setzen, ließ sich von der Außenwelt gängeln. Zwar glaubte dieser, den Durchblick zu haben, aber er selbst war bloß ein Spielball der Welt. Fichte wollte mehr. Er wollte die Welt aus sich selbst heraus schaffen. Die Welt im Ich entstehen lassen. Und so heißt sein Grundsatz, mit dem er seinerzeit alles menschliche Wissen begründen wollte, schlicht: „Ich bin“. Wer einmal Fichtes „Grundlegung der Wissenschaftslehre“ in der Hand hatte und darin versucht hat zu lesen, wird gestaunt haben, was alles sich aus diesem sogar noch Descartes’ elegante Formel unterbietenden Satz ableiten lässt. Aber nicht nur die Dogmatiker haben das nicht verstanden. Fichte hat, im Gegensatz zu Kant, Schelling und Hegel, nicht Schule gemacht. Was nicht heißt, dass man ihn nicht las. Die Frühromantiker, allen voran, Friedrich Schlegel, waren begeistert von den Möglichkeiten, die in dem omnipotenten Ich zu stecken schienen. Aber die Frühromantiker waren auch die ersten, die merkten, dass man aus dem Ich nicht rauskommt, wenn man daraus erst einmal eine uneinnehmbare Festung gemacht hat. Der Katholizismus war dann doch viel versprechender. Der Fichte’sche Grundlegungsversuch alles Wissens in der Philosophie (in seiner) ist gescheitert, was seinen Ansatz gegenüber dem Dogmatismus jedoch auszeichnet und ihn sogar ganz modern erscheinen lässt, ist sein konstruktives Moment. Nach Fichte ist die Außenwelt nicht gegeben, weder ganz noch halb, sondern gemacht. Anders sieht das die Systemtheorie auch nicht. Nur hat letztere zum Thema Bewusstsein überhaupt nichts mehr zu sagen. Auf der anderen Seite thematisiert Fichte an keiner Stelle ein Einzelbewusstsein, vor dem die Systemtheorie so bescheiden kapituliert, weil man es nur mit Kommunikation zu tun habe. Fichtes Bewusstsein ist nichts anderes als ein System, das in sich selbst den Bezug zur Außenwelt vermittelt. Die Umwelt ist nicht draußen, sondern drinnen. Und Spencer Browns vertrackte Figur des „re-entry“, dem Wiedereintritt der Unterscheidung in das von ihr Unterschiedene, ist nichts anderes als eine Reformulierung der Schwierigkeit, wie denn das Ich (das System) zu seinem Nicht-Ich (Umwelt) komme und wie sich die wechselseitigen Bestimmungen konzeptualisieren lassen. Der Dogmatiker hat es leicht. Er ist immer schon draußen. Aber er hat keine Ahnung von der Heimatfront.

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Johann Gottlieb Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), in: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. 1, zur theoretischen Philosophie I, Berlin 1971 (Walter de Gruyter & Co.)