10. Mai 2006

Grundgerüst für Alles

 

Dem Begriff der Wissenschaftslehre, 1794 von J. G. Fichte eingeführt mit der Absicht, das System des menschlichen Wissens aufzustellen, war über Fichte hinaus keine Zukunft beschieden. Was Fichte dabei vorschwebte, war in etwa so einfach oder schwierig wie Descartes’ Versuch, ein unumstößliches Fundament zu finden, das über jeden Zweifel erhaben war. Unter einem System verstand Fichte eine Ordnung, in der alles mit allem verbunden war und in dem alles Wissen von nur einem einzigen Satz abhing, dem Grundsatz der Wissenschaftslehre. Darüber hinaus hatte die Wissenschaftslehre dafür zu sorgen, dass jede Einzelwissenschaft ihren eigenen Grundsatz erhielt, den sie sich nicht selbst verschaffen konnte. Fichtes Vorgehen in dieser Schrift ist hypothetisch: Was wäre, wenn es so etwas gäbe wie eine Wissenschaftslehre; wie würde sie zu ihrem Grundsatz kommen; könnte es theoretisch mehr als einen Grundsatz geben, gesetzt, das menschliche Wissen würde als ein einheitliches System gefasst werden; wie müsste das Verhältnis der Wissenschaftslehre zu den Wissenschaften aussehen, deren Wissenschaftlichkeit sie zu garantieren hätte (und nicht etwa die Logik, die selbst ein Produkt der Wissenschaftslehre zu sein hätte). Fichte hat also ein sehr merkwürdiges Verständnis von Wissenschaft. Jede Wissenschaft wäre auf ihre Art betriebsblind und könnte sich nicht korrekt beschreiben. Um diese Blindheit aufzuheben, muss man eine Stufe höher steigen, eben auf die Stufe der Wissenschaftslehre, die ja gerade mit dem Anspruch angetreten ist, den Überblick über das gesamte Wissen leisten zu können. Aber würde sich die Blindheit nicht auch bei ihr wiederholen? Wer sagt denn der Wissenschaftslehre, dass ihr Grundsatz, über dessen Kapazität das gesamte Wissen steht oder fällt, genau der ist, der der supponierten Einheit des menschlichen Wissens entspricht und diese zum Ausdruck bringt. Fichte geht es in dieser Schrift nicht um den Beweis des Grundsatzes, den er hier auch gar nicht entwickelt oder entfaltet oder proklamiert. Ihm geht es um die Architektur, um die Struktur seines Philosophierens; gesetzt den Fall, wir hätten, trotz Kant, immer noch kein gesichertes Wissen, wie müssten wir vorgehen, um ein solches zu erreichen. Die Wahrheit des Unterfangens könne erst die Wissenschaftslehre selbst erweisen, über die man noch nicht verfüge, deren Plan man aber hier schon einmal begutachten könne. Keine Frage, Fichte bürdet diesem Grundsatz viel auf, wahrscheinlich zu viel. Denn dieser Grundsatz lässt sich nicht beweisen. Man weiß erst einmal gar nicht, wo er herkommen könnte und was ihn so tragfähig machen soll. Immerhin soll in ihm ja potentiell das gesamte menschliche Wissen, formal und vom Gehalt her, ruhen. Eine Art umgekehrte Pyramide, wollte man Fichtes gerne gebrauchte Baumetapher heranziehen. Fichte kann sich ein System nicht anders vorstellen als von einem Fundament, das ein einziger Satz ist, getragen. Bei aller Zirkularität, von der auch Fichte weiß und die er, wie später Heidegger, gar nicht als notwendiges Übel beschreibt, ist das kreisförmige Zurückkommen auf die eigenen Voraussetzungen immer an einer Stelle offen, an der die Verknüpfung mit der der jeweiligen Einzelwissenschaft übergeordneten Wissenschaftslehre zustande kommt. Es ist vermutlich dieser Link, den wir heute nicht mehr mitzumachen bereit sind. In dem heutigen, zumindest systemtheoretischen Verständnis spielt jedes System sein eigenes Spiel. Seine Selbstbeschreibung hängt von nichts anderem ab, kein anderes System könnte dem System eben diese Selbstbeschreibung abnehmen. Von der Einheit im Fichte’schen Verständnis muss man dabei Abschied nehmen, es gibt kein „fundamentum inconcussum“, keinen Träger für alles, der Grundsatz „Ich = Ich“ nicht mehr als ein philosophiegeschichtliche Formel, die mehr einer Tautologie gleicht als ein Versprechen aufrecht zu erhalten imstande ist, wonach in Einem alles enthalten ist. Sechs Jahre später, in Fichtes populärer Schrift „Die Bestimmung des Menschen“ (1800), scheint der Glaube an eine Wissenschaftslehre schon die beste Zeit hinter sich zu haben; das Zauberwort heißt jetzt nur noch einfach: glauben. Der rhetorische Aufwand, der damit getrieben wird, spricht Bände.

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Johann Gottlieb Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, hg. von Edmund Braun, Stuttgart 1972 (Reclam)