9. Mai 2006

Nachreligiöser Glaube

 

Das später so genannte „Projekt der Moderne“ nimmt in Fichtes populärer Schrift „Die Bestimmung des Menschen“ (1800) einen bescheidenen Platz ein. Man könnte sogar sagen, dass Fichte, indem er dieses Projekt bis an sein vermeintliches Ende treibt und die Menschheit in einer universalen Befriedung leben lässt, eben dieser Menschheit ihre Daseinsberechtigung nimmt, denn auf die Frage, was denn nun auf dem Plan stehe, könnte sie nur antworten: weitermachen. Das hieße aber: blind auf der Stelle treten, eine Art Zweckmäßigkeit ohne Zweck, eine Verkunstung des Lebens, dem jede Transzendenz fehlen würde. Es gäbe schlechterdings nichts mehr zu tun. Im Tun und Handeln aber sieht Fichte die Bestimmung des Menschen, weniger im Denken, Räsonnieren, das nur dazu führe, dass der Denkende schnell an seine Grenzen geführt würde, die ihn auf einen anderen Plan zwängen, eben den des Tuns. Die Schrift ist in drei sehr ungleiche Teile geteilt. Im ersten, „Zweifel“ überschriebenen, versucht ein von der schulmäßigen Philosophie relativ unbelastetes „Ich“, das nicht den Autor Fichte repräsentiert, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was die Welt im Innersten zusammenhält und wie das Ich damit zusammenhängt. Ein strenger Determinismus durchziehe die Welt, alles sei von einer nicht näher zu bezeichnenden „Kraft“ bestimmt, der Räsonnierende nimmt hier bereits chaostheoretische Lieblingsannahmen wie den „Schmetterlingseffekt“ vorweg. Alles ist mit allem verbunden, ein alles überschauender Geist könne aufgrund der bloßen Teilabschnittslektüre des Gesamtgeschehens die Geschichte in die Vergangenheit und in die Zukunft ergänzen. Das räsonnierende Ich hätte mit diesem System zwar ein überzeugendes geschlossenes System gefunden, hätte sich als unterstelltes freies Wesen aber zugleich daraus entfernt. Der Verstand befriedigt das Denken, allein die Dignität des (sittlichen) Menschen ist hin. Im zweiten Abschnitt, „Wissen“, versucht das Ich im Gespräch mit einem Geist, der das Ich von seinen Zweifeln zu befreien sucht, eine Lösung zu dem Problem zu finden. Eine Lösung wird auch gefunden, allein sie ist so geringfügig, dass sie beinah noch skandalöser ist als der Zustand des Zweifels. Die Welt zergeht dem Ich zum bloßen Bild, ja zum Traum im Traum, aus dem es kein Erwachen gibt. Nicht der Außenwelt ist sich das Ich, so der Gang durch die Argumente, bewusst, sondern bloß der Erzeugung von Vorstellungen eben dieser Außenwelt, von der man unmittelbar nichts wissen kann. Nach dem Determinismus also der schönste Idealismus, der das Ich zum permanenten Aufenthalt in der Bildergalerie verdammt, die es selbst ist. Dann ist das Geistergespräch zuende, und der Geist entlässt den frisch gebackenen Ich-Geist mit einer hoffnungsvollen Aussicht auf ein Organ, von dem bisher noch nicht die Rede war. Dieses Organ ist immateriell, hat aber weit reichendste Wirkungen. Es ist der „Glaube“, und damit ist auch der dritte Teil überschrieben. Nur durch den Glauben vermag das Ich die Außenwelt wiederzufinden. Der dritte Teil biegt sich auf das Ende des ersten Teils zurück und knüpft an den Wunsch des Ich an, sich selbst als Freiheit zu bestimmen. Für die Sinnenwelt, so die ersten Abschnitte, ist die Freiheit verloren, dort vermag sie nichts. Aber es gibt noch ein zweites Reich, das Reich des Geistes, in dem die Freiheit zu Hause sei. Sie wirke hier als Vernunft und mache sich in jedem einzelnen Menschen als „innere Stimme“ bemerkbar, die untrüglich anzeige, was zu tun sei, auch wenn sich im Jammertal des Menschen die Wirkungen des sittlichen Tuns nicht zeigen würden. Der Mensche müsse sich damit begnügen, im unsichtbaren Reich des Geistes auf Wirkung zu hoffen. Wie diese Wirkungen dort sich zeigen würden und mit anderen sittlichen Handlungen anderer Menschen in Wechselwirkung träten, davon wüsste man nichts zu sagen, aber dass die sittliche Tat eine Wirkung jenseits habe, wüsste jeder mit Bestimmtheit, der eine solche ausübte. Der dritte Teil setzt alles auf eine Karte, eben die des sittlichen Handelns, in Entsprechung eines universalen Organs, das hier der unendliche Wille genannt wird. Nur durch diesen und in diesem lebt der einzelne Mensch, das Irdische ist eine Marginalie, ein bloßer Anlass, im Geisterreich Wirkungen zu erzielen. In diesem Sinne ist die Aufklärung ein Unternehmen, dem Einzelnen Sand in die Augen zu streuen, denn die Beugung des Naturzwangs und noch jede ästhetische Erziehung finden auf der falschen Ebene statt. Das Projekt der Moderne kann sich getrost in sich selbst einrollen, denn das entscheidende Tun kann schon hier und jetzt ansetzen. Und das ist ein Angebot, vor der sich jede Gesellschaftstheorie einfach nur klein machen kann. Glauben? Dieses Organ hat immer Zukunft, weil es sofort voll befriedigend loslegt.

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen, hg. von Theodor Ballauff und Ignaz Klein, Stuttgart 1976 (Reclam)