8. Mai 2006

Chinese Fast Food

 

Zumindest aus den Medien weiß der Zeitgenosse, dass eine Bootsfahrt nicht immer lustig ist. Nicht alle Interkontinentalreisen erfolgen im erwünschten Komfort. Außerdem mag das Preis-Leistungsverhältnis eklatant verzogen sein. Man hat Tausende Dollar bezahlt, und dann heißt es für Wochen in einem bald übelst stinkenden Container Platz nehmen. Natürlich zwingt einen niemand zu dem Entschluss, aber der erhoffte Start in ein neues Leben ist oft unverhältnismäßig teuer bezahlt, vorausgesetzt, es gelingt einem, Nutznießer dieser Hoffnung zu werden. Der Chinese Lin Piao hat aber noch andere Gründe, sich nach Deutschland verschiffen zu lassen. Eine Familienangelegenheit, wobei anfangs noch ganz unklar ist, wie groß die „Familie“ ist, mit der es Lin Piao zu tun bekommt. Wichtig ist erst mal, dass er den Hamburger Hafen lebend erreicht, anders als manche seiner Reisegefährten. Der Leser erfährt, dass Chinese nicht gleich Chinese ist. Seit 1997 Hongkong kein Teil mehr der britischen Kronkolonie ist und unter chinesischer Verwaltungshoheit steht, ist die Welt überzogen worden von einem unüberschaubaren Schwarm an „Triaden“, mafiöser Name für das chinesische organisierte Verbrechen. Drogenhandel, illegale Prostitution, Geldwäsche, die üblichen Verdächtigungen. Als Illegaler ist Lin Piao natürlich auf Gedeih und Verderb der Schleuserbande und ihrer Nachfolgeorganisation ausgeliefert. Zugleich ist er ein potentieller Kandidat für die „Drachen“, die wie ein parasitärer Staat im Staat funktionieren. Das Leben dort ist hart, Bandenkriege fordern ihren Tribut an Geld und Menschenleben. In der parallel dazu erzählten Geschichte geht es ebenfalls um viel Geld, der ambitionierte Steuerfachmann Ernest J. Pateras versucht in einer aufwendigen Aktion, ein paar Millionen Zigaretten am Staat vorbei ins Land zu schmuggeln. Und dann ist da noch Kriminalkommissar Pieter Lund, dem die verschiedenen Stränge fast wie von selbst in die kaum aktiv ermittelnden Hände fallen. Alles hat mit allem zu tun. Täter werden zu Opfern, Opfer gehen vor wie Kommissare. Kein Wunder auch, dass bei so viel China-Import gar nicht klar ist, wo die wirklichen Übeltäter stecken; Chinesen sind nicht nur Meister im Schattenboxen, sondern machen es physiologischen Chefanalytikern schwer, etwaige geheime Motive hinter der eisernen höflichen Maske zu rekonstruieren. Wie freigebig ist dagegen das Hamburger Winter-Schmuddelwetter, das den Erzähler zu Höchstleistungen im Beschreiben von erhabenen Himmelslandschaften antreibt, während der Chrysler-fahrende Kommissar sich musikalisch aus einer berufsspezifischen Depression zu befreien sucht (Diskografie ist dem Roman beigefügt). Obwohl nicht gerade wenig passiert in diesem Kriminalroman, ist er doch nicht spannend zu nennen. Der Leser weiß immer nur so viel wie der Kommissar und seine Helfershelfer, die Logik der Ermittlung fußt eher auf Ahnung und Zufall als auf rasch verfolgbaren Indizien. Sicherlich ist das nicht ganz absichtslos, selbst hier macht sich das asiatische Prinzip des Kommen- und Gewähren Lassens bemerkbar. Sein wahres Gesicht zeigt der Bösewicht aber erst in Hongkong, wohin es auch Kommissar Lund am Ende verschlägt. Und erst hier gibt sich die Geschichte als das zu erkennen, was sie vor allem ist, nämlich als ein Kapitel aus der universalen Doppelgängermotivik. Aber wer im Westen hat schon wirklich ein Gesicht zu verlieren, wir Schattentänzer?

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Holger Biedermann, Der zehnte Drache. Roman, Frankfurt am Main 2006 (FTV)