1. Mai 2006

Einfach schwierig

 

Was das Wort Niemandsmusik bedeuten könnte, konnten Besucher der »Konfrontationen Nickelsdorf« noch vor einigen Jahren mühelos unter der Außendusche herbeikontemplieren, die ihnen auf einer privaten Zeltwiese von einem freundlichen Anwohner zur Verfügung gestellt wurde. Die Exklusivität einer kalten Dusche unter dem burgenländischen Himmel, und niemand in der Warteschlange. Kulturelles, geographisches Niemandsland an der ehemaligen Grenze der Systeme, nachmittags am Baggersee in Ungarn, und abends versammeln sich in diesem Flecken einige Liebhaber, Kollegen und Journalisten zur Musik von Weltstars wie Cecil Taylor oder Derek Bailey.

 

Das ist ein Free-Jazz-Meeting, und solche Nischen gibt es zum Glück. Nicht selten spielen dabei Provinzen eine besondere Rolle. Randzonen, in denen Freie Musik gedeihen kann, wenn auch nicht ohne ökonomische Trockenheiten. Niemandsmusik ist wegen der fließenden Grenzen zwischen den Stilen ein brauchbarer Terminus. Er macht ihre Hörer zu einer very lonely crowd. Man darf es nicht zu eng sehen: So klein ist ihre Zahl nun auch nicht. Aber ein bisschen einsam macht der Sound schon. Etwas Anstrengendes und Erzwungenes gehört manchmal zum Programm. Oft hat Freie Musik Experiment- und Labor-Charakter im Hinblick auf das Klangergebnis wie auf die interaktiven Prozesse des Musikmachens. Mehr Forscher- als Schöpfergeist. »The reason for playing is to find out what I want to play.« Gemeinsam ist den Stilen eine Radikalität, die sich in Konkretheit oder Abstraktheit niederschlägt. Oft geht es eher um eine Haltung als um einen Stil. Mit einem psychologischen Impetus: Die Musik wirft den Hörer auf sich und seine Hörerwartungen zurück. Mit einem existenzialistischen: Sie sucht ihn dort auf, wo er immer schon mit sich ist. Vielleicht verleiht das dieser Musik eine besondere Aura, wo sie im Radio gespielt wird – ein Moment der Teilhabe an einer virtuellen Gemeinschaft der Wellenempfänger. Das objektiviert. Unterwegs vom Broadcast zum Podcast verflüchtigt sich dieser Effekt.

 

Die Melange, die Felix Klopotek in seiner Aufsatzsammlung »How they do it. Free Jazz, Improvisation und Niemandsmusik« auftischt, erscheint vom Standpunkt einer musikologischen Systematik alles andere als stringent. Das Inhaltsverzeichnis präsentiert eine ungezwungene Ordnung der Dinge. Am Anfang war und ist der Free Jazz als historische Wurzel und ideeller Bezugspunkt unerlässlich. Es folgen »Post-Serialismus«, »Gitarrenrenaissance«, »Electronica«, »Nach der Postmoderne«, »Rock Power« und ein »Anhang«, der ebenfalls programmatische Texte enthält. In den Kritiken, Interviews und Essays – zuerst veröffentlicht zwischen 1996 und 2002 in diversen Periodika – bereist Klopotek musikalische Grenzgebiete und gesetzesfreie Räume vom Free Jazz bis zum Turntablism, ohne sich mit allzu langwierigen Standortbetrachtungen aufzuhalten.

Das Übertreten von Grenzen gehört zum Selbstverständnis ganzer Traditionen der Freien Musik. Dass das zur Geste erstarren kann, reflektiert Klopotek durchaus mit und findet den Begriff des Überschreitens »allerdings problematisch, weil er das Trennende hervorhebt und den Vorgang … zu stilisieren droht.« Dagegen hebt er etwa für die Musik von Gastr Del Sol hervor, dass sie »Grenzen ziehe, ohne auszugrenzen, indem eine Vielzahl von möglichen Übergängen geschaffen wird«. Wie man es auch wendet, die musikalischen Grenzgebiete und jenseitigen Landschaften auf einem unbefestigten, unkontrollierten, unkanonisierten Gelände bleiben immer präsent.

 

Da wäre zum Beispiel die Grüne Grenze zum Jazz – stellenweise auch ein Minenfeld der politisch-ästhetischen Praxis. Die Freie Musik war in ihren Anfängen Vorbote und Statthalter einer egalitären Gesellschaft. Historisch koinzidiert der Free Jazz mehr als zufällig mit den sozialen Bewegungen der 60er Jahre und schöpft seine (Überzeugungs-)Kraft auch aus dem Selbstbewusstsein der Avantgarde. Free Jazz bekämpft Konventionen, revolutioniert die Aufführungspraxis und macht das Zusammenspiel der Musiker zum Gegenstand der ästhetischen Betrachtung. Ornette Colemans Credo »Play the music, not the background« war zwar zunächst als Aufforderung zu verstehen, sich vom Harmonie-Korsett des klassischen Jazz zu befreien, enthält aber ebenso gut ein musikalisches Zu-den-Dingen, die Hinwendung zum Ton, zur Energie, zur Interaktion und die Utopie einer Expressivität aus dem Nichts. Diese Musik soll weder menschlichem Willen noch dem Zufall entspringen.

Doch Free Jazz war alles andere als eine Jugendbewegung. Als »Soundtrack ihres Lebens« werden sich wenige solche Musik wünschen. Dabei wäre ein wirkliches Leben vielleicht gerade der richtige Film dafür. Musik, die Aufmerksamkeit verlangt. Vom Spieler, weil er sich spontan auf das Geschehen und seine Mitspieler einstellen muss. Vom Hörer, weil sie ihm nicht erlaubt, sich in seine Gewohnheiten fallen zu lassen. Musik, die sich mit Background nicht zufrieden gibt.

Den politischen Interpretationsrahmen hat der Free Jazz überlebt, legt Klopotek schon im Vorwort dar. Die Rezeption überführt die Musik heute in andere Kontexte, ohne jede Spur von Maoismus. Vielmehr geht es um das Abstreifen der Planbarkeit, »den Boden unter den Füßen verlieren«, »auf Autopilot schalten«, konkret Alltägliches oder um eine Inszenierung des Scheiterns. Derek Bailey formuliert den inspirierenden Gedanken, das Instrument sei so einzusetzen, wie man mit dem Geschmack, dem Gedächtnis, den Vorurteilen und Gewohnheiten umgeht. Peter Brötzmann versteht seine Musik als Verlängerung der Sprachartikulation. Und Klopotek selbst findet offenbar viel Gefallen an der Vorstellung eines »Einfachen, das schwierig zu machen ist«.

 

Die Grenze zur E-Musik ist ein sperriges Bollwerk. »Jazz und Neue Musik führten ... ein Dasein, das Kontakte zur jeweils anderen Seite ausschloss.« John Cage oder Morton Feldman lehnten improvisierte Musik schlicht ab und arbeiteten an der Vermittlung musikalischer Parameter, für die die klassische Notation unscharf geblieben war. Auf der anderen Seite protestiert die Fluxusbewegung 1964 beim New-York-Besuch Stockhausens gegen »european-US ruling-class art«, ausgelöst durch dessen diskriminierende Äußerungen über den Jazz.

Bereits die Schüler-Generation aber, weiß Klopotek, hat ein »zunehmend ideologiekritisches Unbehagen an der eigenen musikalischen Sozialisation«. Cornelius Cardew, ehemaliger Assistent Stockhausens, versammelt 1965 eine Jazz-Combo zur Realisierung seiner grafischen Komposition »Treatise« um sich. Ende der 60er Jahre verfasst Cardew eine Ethik der Improvisation: Einfachheit, Integrität, Selbstlosigkeit, Toleranz, Bereit-Sein, Identifikation mit der Natur, Akzeptieren des Todes lauten die Kardinaltugenden. Neue Musik, Geräusch und Improvisation finden ästhetisch zueinander. Manche Entwicklungen auf beiden Seiten verlaufen parallel. Felix Klopotek zeichnet die Ideen- und Mentalitätsgeschichten nach bis in Irrwege, »Kitsch« und »lächerliche Grabenkämpfe«. Vielleicht erkennt man heute, nachdem der Eiserne Vorhang zwischen E-Musik und Improvisation gefallen ist, den gemeinsamen Bewusstseinsstrom besser. In diesen mündet mittlerweile auch eine aus der DJ-Culture stammende Linie. Ein Begriff wie Echtzeitkomposition reflektiert die differenzierten Einstellungen zur Tradition. Für Derek Bailey etwa, legendärer Solo-Improvisator an der Gitarre, ist auch der Sampler nicht einfach ein Klang-Archiv, das es bloß ermöglichte, sich der Geschichte der Musik zu bedienen und sie in neue Kontexte zu stellen. Für ihn sind Musik und Instrument nicht zu trennen, und auch der Sampler ist ein Instrument. Schließlich gibt es auch am Turntable und unter den Laptop-Musikern Improvisatoren. »Sie greifen auf eine riesige Menge an bereits vor-strukturiertem, prä-organisiertem Material zurück, verwenden dies in Echtzeit und unabhängig von definierten äußeren Strukturen.«, erklärt Keith Rowe in einem der Interviews. Was Geräuschtüftler, Laptop-Musiker und Instrumentalkünstler hierbei unterscheidet, kann letztlich alles oder nichts sein. In der Wechselstube zwischen Improvisation und Komposition wird manchmal nur die andere Seite derselben Münze wieder ausgegeben.

 

Das könnte auch für das Begriffspaar abstrakt/konkret gelten. »Konkret« schlägt sich Alltag in der Musik nieder, Geräusche, das Erbe der Musique Concrète. Ein eingeschaltetes Radio auf der Bühne soll Bruchstücke von Wirklichkeit transportieren; wie schwierig es auch sein mag, den Live-Empfang im Einzelfall von einer Aufzeichnung zu unterscheiden. Abstakt hingegen ist Musik, die »keinen Text, keine Parolen, keine Melodien (Harmonien, Rhythmen etc.) im herkömmlichen Sinne hat.« Musik, die sich negativ aus der Abwesenheit musikalischer Parameter definiert. Minimalismus wird oft als abstrakt verstanden. Aber ist das Radio auf der Bühne nicht auch eine abstrakte, metamusikalische Lösung für ein konkretes musikalisches Problem? Für Keith Rowe sind solche Radioeinspielungen Readymades. Bezugslos, statisch, zufällig. Oft entscheidet die Haltung – »how they do it«.

 

Den Anspruch der Vollständigkeit oder Kohärenz vertritt Klopoteks Sammlung natürlich nicht. Viel wichtiger ist auch, dass die Musiker und Musiken dieses Bandes in Konstellation treten und dabei überhaupt so etwas wie eine Gattung aus ihrem Schattendasein hervortritt und in einen historischen Zusammenhang gestellt wird – so provisorisch das sein muss. Niemandsmusik ist darauf angewiesen, dass berufene Leute ihre Faszination in Worte fassen und Zugänge öffnen. Radikale Musik kann Liebhaber brauchen, die bezeugen, wer wann wo unter welchen improvisierten oder bis ins Kleinste kontrollierten Umständen was aufgeführt und aufgenommen hat. Indem er sich der konkreten Vielfalt an der Peripherie des sonst abstrakt-gigantischen Musikbetriebs widmet, verstärkt Klopotek deren Anziehungskraft.

Und am Ende hat auch er ein Wort von Neil Young.

 

Ralf Schulte

 

Felix Klopotek, How they do it. Free Jazz, Improvisation und Niemandsmusik. Ventil Verlag, Mainz 2002, 221 Seiten, 13,90 €

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon