27. April 2006

Prachtexemplare

 

Sicher, die Romantiker waren geschichts- und geschichtenversessen, aber nicht auf allem, dem sie sich zuwandten, steht das Etikett Mittelalter. In ganz besonderem Maß gilt dies für „Vittoria Accorombona“ von Ludwig Tieck, erschienen 1840. Dieser historische „Roman in fünf Büchern“ spielt im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts, vor allem in Rom, wo Papst Gregor XIII. gerade an seinem Kalender bastelt, dessen neue Zeitrechnung 1582 für die christliche Welt verbindlich wird. Man mag es kaum glauben, dass man sich in diesem Sittengemälde in der Zeit des Humanismus, der Renaissance, der Geburt des „Menschen“ aufhält. Viel eher wird man an Nietzsches seltsamen Schulterschluss mit den Raubtiermenschen dieser selbstherrlichen Zeiten gemahnt. Bürgerliche Gesetze gibt es noch nicht. Der Papst ist schwach und kann sich nicht durchsetzen. Die Kardinäle sind vor allem mit Politik beschäftigt und fest eingebunden in die Intrigen und Seilschaften des Adels, dessen Maß vor allem die Stärkung der eigenen Machtposition ist. Christliche Tugenden findet man auf diesem Podium vergebens. Jeder ist sich selbst und seinen Verbündeten der Nächste, und keiner weiß, wie lange die Bündnisse halten. Vor diesem Hintergrund schildert Tieck das erstaunliche Schicksal einer römischen Familie, das ihm zuerst, 1792, in Form einer Tragödie von Webster „als merkwürdig“ aufgefallen war. Tieck hätte die Möglichkeit gehabt, anhand der vier Kinder Accorombona vier Bildungsromane zu schreiben. Was wir dagegen lesen, ist die Geschichte einer Zerreibung. Wie hoch die Helden der Geschichte auch denken mögen – und die Höhe ist manchmal atemberaubend, die Wiedergeburt der Antike und ihrer Ideale wie selbstverständlich auf den Lippen der Redenden –, so vermögen sie doch nichts in einer schwer durchschaubaren Ära der Lizenzen, deren Träger unvorhersehbar wechseln und die morgen verbieten, was gestern noch erlaubt war. Eigentlich könnte die Witwe Accorombona stolz auf ihre vier Kinder sein, aber anders als die etwas jüngere Mutter Courage wird sie sich die Frage nicht beantworten können, was sie falsch gemacht hat, als sie merkt, dass ihr ein Kind nach dem anderen entschwindet. Der älteste Sohn schlägt die kirchliche Karriere ein, sympathisiert aber mit der Familie feindlichen Elementen. Der zweite ist unruhigen Gemüts und bereitet der Mutter als unbelehrbarer Bandit Kopfzerbrechen. Der dritte ist zurückhaltend und will nicht so recht zum Mann gedeihen. Die jüngste ist ein Mädchen, Vittoria, die man einen Blaustrumpf avant la lettre nennen könnte, wäre sie nicht so unglaublich schön, dass sich kaum ein Mann traut, sie anzusprechen oder sich in sie zu verlieben. Man merkt schnell: Diese Zeit mag groß denken, sie mag als große in den Geschichtsbüchern angeschrieben sein – was man aber hier in diesem Roman liest, zeugt eher von der Größe vor dräuender Gewalt, einer Größe, die gerade am Beispiel der Tochter sich einer eigenartigen literarischen Selbsterziehung zu verdanken scheint. Noch ist Vittoria am Anfang der Handlung als Frau frei verhandelbar, noch wirken die sozialen Startplätze der Kinder so harmonisch und viel versprechend wie der Landaufenthalt „in dem anmutigen Tivoli“, aber schon kurze Zeit nach der Rückkehr in Rom steht die Familie unter Zugzwang. Sie muss sich schnell entscheiden, unter welche Fittiche, also auch unter welche Sachzwänge sie sich begeben will. Farbe bekennen heißt hier immer sich Feinde schaffen. Vittoria heiratet, ihr Mann ist ein Schwächling. Andere sind eifersüchtig und sinnen auf Rache. Frauen gelten nicht viel und werden ungestraft von ihren Gatten ermordet. Allerdings muss der Herzog Bracciano auch noch Vittorias Gatten töten lassen, um sie frei zu machen, Scheidung ist in diesen Kreisen noch nicht populär. Aber das lang ersehnte Glück währt nicht lange, je selbstherrlicher die Ritter sich fühlen, desto härter wird gegen all das vorgegangen, das diese Selbstherrlichkeit in Frage stellt. Diese Welt bereitet sich selbst den Untergang. Rücksichtslosigkeit kommt als Bumerang zurück. Dann wird ein neuer Papst gewählt, ein Wolf im Schafspelz, kirchliche Diktatur schafft ein wenig Ruhe. Dem halb-autonomen, halb-arroganten Liebespaar nützt das nichts mehr, es stirbt an den Verletzungen, die es selbst hervorgebracht hat.

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Ludwig Tieck, Vittoria Accorombona. Ein Roman in fünf Büchern, Leipzig o.J. (Insel)