24. April 2006

Die Verschreibungen des Arztes

 

Warum man delirierender Antisemit werden muss, um einen Weltkrieg (den Zweiten) verhindern zu wollen, das kann auch der Autor dieser monumentalen Biografie nicht erklären. Louis-Ferdinand Céline war allerdings ein sehr sonderbarer Antisemit, der mit der deutschen Rassenpropaganda nicht viel am Hut hatte. Aber warum machte er überhaupt seinen antisemitischen Rachen ab 1937 so weit auf? Was hatten die Juden ihm angetan? Welche Juden? Was für ein Syndrom verbarg sich für ihn dahinter? Man versteht es nicht. Man ist fassungslos darüber, dass in Célines antisemitischen Pamphleten der Rap seine Erfindung aus den Sümpfen des Hasses und der Verzweiflung feiert – avant la lettre. Hip-Hopper haben Céline höchst wahrscheinlich nie gelesen, aber bei ihm ist rhythmisch schon alles angelegt, spätestens 1938, in „L’École des cadavres“, über Schriftstellerkollegen und Journalisten liest man etwa: „Jamais ils n’ont rien enculé, reculé, basculé, masculé, rien du tout! Ces perruchelets paoniformes, pas la moindre miche, bonniche, la moindre complicature, désourcillé, rabiboché le plus frêle litige mitigieux !… “ Selbst Frédéric Vitoux, Mitglied der Académie française, kann nicht anders, als Céline zu diesem „bewundernswerten Konzentrat des stilistischen Genies und Irreredens“ zu gratulieren. Da haben wir es noch einmal, Lambrosos Engführung von „Genie und Wahnsinn“. Die Texte sind eindeutig zuschreibbar, aber ist der Autor zurechnungsfähig? Wie wird man Paranoiker? Und gibt sich das mit der Zeit? Keine Frage, Céline war ein ausgesprochener Paranoiker. Er war es im wirklichen Leben – man hatte ihm den wohl verdienten Goncourt für seinen Roman-Erstling, die „Voyage au bout de la nuit“ (1932), dann doch nicht gegeben, man schwieg seinen zweiten Roman tot, „Mort à crédit“ (1936) – und er war es als Schriftsteller, es gibt keinen gehetzteren Stil als den von Céline. Dieser Mann muss unglaublich verbittert gewesen sein. Und muss zugleich eine wahrhaft teuflische Lust daran gehabt haben, seine Galle, in Worten, Phrasen und Sätzen rhythmisch genau geeicht, in pamphletistischer und literarischer Form der schnöden Welt zurückzugeben. Céline hatte in dieser Zeit, um 1940, viele Leser, aber er schrieb für niemanden. Im engen Sinn war er kein Kollaborateur, die Nationalsozialisten konnten mit ihm praktisch und theoretisch nichts anfangen. Geholfen hat ihm das nichts. Die, wenn man so will, antisemitische „Pflicht“, vorgetragen in einer idiosynkratischen, ja idiotischen „Kür“, das brauchte kein deutscher Nationalsozialist, auf der anderen Seite machte es ihn gleichwohl zum Feind Nummer eins, Céline war die Symbolfigur des französischen Antisemitismus. Die Luft wurde für ihn sehr dünn, als Frankreich 1944 kurz vor der Befreiung stand. Er musste mit dem Schlimmsten rechnen. Céline floh nach Deutschland, zunächst nach Brandenburg, dann, als die Russen immer näher kamen, wieder nach Westen, nach Sigmaringen, wohin bereits die Crème de la Crème der französischen Kollaboration bestellt war, Pétain, Laval und Konsorten. Als auch dieses Nachtschattengewächs kurz vor dem Verblühen stand, floh Céline weiter nach Norden, nach Dänemark, wo er Ende März 1945 ankam. Eine Zeit lang konnte Céline untertauchen, obwohl er polizeilich korrekt gemeldet war, aber zu dieser Zeit wussten die Dänen noch nicht, wen sie da zu Gast hatten. Irgendwann forderte die erste Nachkriegsbürokratie Frankreichs die Auslieferung des „Kriegsverbrechers“ Céline, die Anklage lautete auf Landesverrat, worauf die Todesstrafe stand. Céline musste also mit dem Schlimmsten rechnen. Aber Céline hatte das Glück, dass sich Dänemark nach der deutschen Besatzung sofort wieder auf seine Liberalität besann. Glück im Unglück, oder besser Unglück im Glück? Céline wurde nicht ausgeliefert, aber er wurde inhaftiert, über achtzehn Monate saß er im Gefängnis. Es gab keine Entschuldigung auf seiner Seite. Sechs Millionen ermordete Juden? Keine Schuldgefühle. Umgekehrt verstärkte sich die Paranoia. Das Gefängnis machte ihn zum vollendeten Einzelkämpfer. Alles auf eigene Rechnung. Auch wenn ihm von den dänischen Behörden kompetente Leute zur Seite standen – selbst hier wird er später nur das Interesse dieser Leute bemerkt haben, sich irgendwie an ihm zu bereichern. Der wahre Sündenbock – Céline. Man kann diesen Mann nicht mögen, er ist unerträglich, selbstsüchtig, monoman, er ist kleinlich, ein vollendeter Kleinbürger, und dann merkt man, dass das nicht alles ist, dass es diese Bücher von ihm gibt, seine Romane, die immer mehr zu Chroniken werden, dass hier ein Leben eine radikale formale, das heißt hier stilistische Transponierung erfährt, von dem man nie genug erfahren kann. Der scheußliche Céline macht süchtig. So plakativ sagt es der Doktor Vitoux nicht, aber das ist die Quintessenz dieser aufregenden Reise, auf die Vitoux den Leser mitnimmt. Frankreich hat seinen Frieden mit Céline gemacht. Seit 1959 erscheinen seine Werke (bis auf die Pamphlete, deren Wiederabdruck die Witwe Célines verboten hat) in der renommierten „Pléiade“-Ausgabe, wo schließlich auch der Bösewicht Sade aufgenommen wurde. Die Werke sind da, mit den Autoren wird man nie fertig werden.

 

Dieter Wenk (03.06)

 

Frédéric Vitoux, La vie de Céline. Nouvelle édition revue et augmentée, Paris 1988/2005 (Éditions Grasset et Fasquelle)