22. April 2006

Vor dem Gesetz

 

Nicht lange nach Emile Zolas Erfindung des modernen „Intellektuellen“ im Rahmen der Dreyfus-Affäre erschien diese Erzählung des im Laufe seines Lebens immer weiter nach links wandernden Schriftstellers Anatole France, und zwar unter dem bezeichnenden Titel „L’Affaire Crainquebille“. Zwei Jahre später, 1903, konnte man das traurige Schicksal Crainquebilles auf den französischen Bühnen beklagen. Wie im Falle des jüdischen Generals Dreyfus, dem man Kollaboration mit dem (deutschen) Feind unterstellte, ihn vor Gericht brachte und ihn schuldig sprach, obwohl das Urteil allein der Staatsraison folgte, so wird der „fliegende“ Händler Crainquebille angeklagt und verurteilt, obwohl er gar nicht begangen hatte, wessen man ihn schuldig sprach. Crainquebille ist also ein kleiner Händler, der seit fünfzig Jahren früh aufsteht, sich im „Bauch von Paris“ mit den besten Lebensmitteln eindeckt, um diese dann ambulant an den Mann und die Frau zu bringen. Er trinkt ein bisschen, er ist nicht sehr helle, aber er macht seine Arbeit und Punkt. Eines Tages, als der gute alte Mann darauf wartet, dass eine Käuferin ihm das Geld für seine Ware aus ihrem Laden bringt, fordert ihn der „Schutzmann 64“ auf, weiterzugehen. Crainquebille weiß nicht, was er machen soll: auf den Ordnungshüter hören, aber auf das ihm zustehende Geld verzichten, oder warten und hoffen, dass der Polizist begreift, was Crainquebille gerade tut. Mehrere Male sagt Crainquebille, dass er bloß auf sein Geld warte, aber Schutzmann 64 lässt das nicht durchgehen und bleibt bei seinem Befehl. Die gute Frau im Laden lässt auf sich warten, der Verkehr kommt dann auch noch zum Erliegen, sodass Crainquebille gar nicht mehr weitergehen kann, aber dem Polizisten wird es zu bunt und unterstellt dem Händler, ihn beleidigt zu haben mit den Worten „Spürhund verrecke“. Obwohl das nicht den Tatsachen entspricht, was zudem ein älterer Herr bezeugen kann, wird Crainquebille verhaftet. Und obwohl im auf sechs Minuten angesetzten Gerichtsverfahren Aussage gegen Aussage steht – der Schutzmann 64 gegen den älteren Herrn, der ein Professor ist, aber als „Gebildeter“ nicht sonderlich viel gilt (die Zeit des „Intellektuellen“ sollte ja erst noch kommen) – wird rein staatserhaltend geurteilt und Crainquebille zu Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt. In einem nachgeschobenen Gespräch zweier Prozessteilnehmer wird die Begründung für die Gerichtsfarce geliefert. Wollte man sich wirklich auf ein gerechtes Urteil einlassen, wüsste man bald nicht mehr, wo die Grenzen sind für das, was relevant ist und was nicht. Ein Gericht müsse beschlussfähig sein und bleiben. Und das könne es nur, wenn es gewissermaßen schon im Vorfeld all das ausschließe, was der Erhaltung der Macht und dem Respekt vor den staatlichen Autoritäten entgegenstehe. Es gehe nicht um Wahrheit, sondern um Kontinuität, Sicherheit und unumstößliche Anerkennung der Repräsentation staatlicher Gewalt. Anders als Dreyfus wird Crainquebille nicht rehabilitiert, im Gegenteil. Nach seiner Haftstrafe kann er nicht mehr Fuß fassen, man meidet ihn, kauft bei anderen, er ist zum „Juden“ gestempelt. Die Pointe dieser Geschichte ist beinahe noch trauriger als die Niederlage des Händlers vor Gericht. An einem kalten Wintertag, der den mittlerweile völlig mittellosen Crainquebille das Los der immerhin mit Essen versorgten Häftlinge beneiden lässt, irrt der alte Mann durch sein ihm fremd gewordenes Viertel. Vor einer Kirche sieht er einen Hüter der Ordnung stehen, der gleichmütig den „Staubregen“ zu ertragen scheint: „Seine Unbeweglichkeit hatte nichts Menschliches.“ Crainquebille nähert sich ihm, und mit „dünner, unsicherer Stimme“ sagt er: „Spürhund verrecke!“ Nichts passiert. Der alte Mann wiederholt seinen Fluch. Nach langem Schweigen sagt der Polizist, dass man so etwas nicht sage, in seinem Alter solle er vernünftiger sein, und er solle weitergehen. Crainquebille fragt, warum er ihn nicht verhafte. Der Polizist antwortet, das würde zu nichts nützen. Verwirrt von dieser „großmütigen Verachtung“, die so gar nicht im Einklang steht mit seiner früheren Begegnung mit der Ordnungsmacht, versucht Crainquebille sich sowohl zu entschuldigen als auch sich zu rechtfertigen, aber es gelingt ihm nicht, und nachdem der Wachmann ihn ein weiteres Mal auffordert, weiterzugehen – eine Situation, die sich nicht anders als prä-kafkaesk bezeichnen lässt –, zieht Crainquebille ab, mit gesenktem Kopf, den Polizisten allein lassend.

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Anatole France, Crainquebille, in: Französische Erzähler von Chateaubriand bis France, Leipzig 1951 (Dieterich)