13. Oktober 2003

Jenseits der Automaten

 

Zu Akira Yoshimuras Roman „Unauslöschlich“

 

Von Gustav Mechlenburg

 

 

Wer Fahrkartenautomaten oder Rolltreppen nur aus TV-Serien kennt, kommt entweder vom Land oder muss ein ungewöhnliches Leben geführt haben. Kikutanis erster Kontakt mit den neumodischen Monstren gehört zu seiner Resozialisation. Nach 16 Jahren Haft wird der ehemalige Lehrer auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen. Mit bewundernswerter Fürsorge kümmern sich Bewährungshelfer um seine Rückkehr ins Alltagsleben.

 

Zunächst muss er sich seinen Stechschritt abgewöhnen, sich mit dem neuen Geldwert vertraut machen, lernen, unter fremden Menschen zu sein, – schlicht: wieder selbstständig werden. Das Übergangsheim, in dem er unterkommt, ist zunächst eine positive Fortsetzung des Gefängnisses. Es bietet ihm ein Gefühl von Sicherheit in der ihm fremd gewordenen Welt. „Es war eine rein pyhsische Angst wie bei einem Maulwurf, der der Sonne ausgesetzt ist.“

 

Erst nach viel gutem Zureden traut Kikutani sich, eine eigene Wohnung zu beziehen und einen Job in einer Hühnerfarm außerhalb Tokios anzunehmen. Doch bereits hier ereilt ihn seine Vergangenheit. Ein anderer Ex-Häftling hat ihn erkannt, und er hat Angst, dass seine Gefängnisaufenthalt dort bekannt wird. „Er hatte alles darangesetzt, die Vergangenheit zu vergessen, doch letztlich war das nur eine Flucht. Die Tat, für die er zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war, existierte weiter in ihm und war unauslöschlich.“

 

Doch so richtig bereuen tut er nichts. Er hatte seine Frau und ihren Liebhaber auf frischer Tat ertappt, seine Frau erstochen und das Haus des Nebenbuhlers angezündet, wobei dessen Mutter ums Leben kam. Doch „die vielen Jahre im Gefängnis hatten seine Schuldgefühle gewissermaßen verwittern lassen.“

 

Im Gefängnis konnte er sich in seine eigene Welt verkriechen, aber hier draußen gab es zu viele aufdringliche Menschen. Aus dem Gefängnis der Schuld gibt es keinen Ausgang. Er muss damit rechnen, den Angehörigen der Verstorbenen zu begegnen. „Und dann? Es mag grausam klingen, aber wie sehr du auch vor ihnen auf den Knien rutschst und dich entschuldigen magst, du wirst sie an etwas erinnern, was sie vergessen wollten, und das wird ihnen ganz bestimmt nicht passen.“ Vergessen würde Kikutani doch auch gern, aber man lässt ihn nicht. Er hat das Gefühl, an Ketten gelegt zu sein, wohingegen ihm die Haft vergleichsweise freier erscheint.

 

Vor allem die ihm vom Bewährungshelfer vermittelte neue Frau lässt nicht locker. Für eine vollkommene Begnadigung, um ohne Auflagen frei reisen zu können und als normaler Bürger wählen zu dürfen, muss er Reue zeigen und die Toten um Verzeihung bitten. Wieder soll er alles aufrollen, keiner lässt ihn in Frieden. Eines Tages wird es zu viel, Hass und Verstörung sind wieder da, er sieht Rot. „Er sagte nichts, als er ihren verbohrten Blick bemerkte. Es machte ihm Angst, dass plötzlich eine gewaltsame Macht in sein friedliches Dasein, das er mit knapper Not aufrechterhielt, einbrach. Offenbar war sie wild entschlossen, alles ans Licht zu zerren, was er lieber unter Verschluss halten wollte.“ Nur ein Stoß, eine Treppe, und das Unheil kehrt zurück.

 

Yoshimura ist mit „Unauslöschlich“ ein psychologisches Glanzstück gelungen. Gerade da alle Personen sich so rührend um den Protagonisten bemühen und dieser auf Grund seiner Bildung und seines Wesens die besten Voraussetzungen hat, wieder ein normales Leben führen zu können, erstaunt das tragische Ende. Und doch auch wieder nicht. Denn der Autor versteht es, die Verstörtheit und Aussichtslosigkeit des Ex-Häftlings mit solcher Intensität zu vermitteln, dass eher die gelingende Integration verwundern würde. Rolltreppen und Fahrkartenautomaten wird Kikutani in absehbarer Zeit zumindest erst einmal nicht mehr benutzen müssen.

 

Akira Yoshimura: Unauslöschlich. C.H. Beck Verlag 2002