5. Oktober 2003

125 Jahre Robert Walser

Natürlich werden zu diesem Buch nur Leser greifen, für die Robert Walser etwas mehr ist als ein gewöhnlicher Autor; kurios ist gleichwohl, dass man es lesen kann, ohne auch nur eine Zeile von Robert Walser zu kennen. Das liegt wohl daran, dass Jochen Greven eine wirklich spannende Geschichte geschrieben hat, die einigermaßen paradigmatisch anmutet. Und diese Geschichte hat zwar mit Robert Walser zu tun, ist aber in erster Linie eine Editionsgeschichte. Aus ihr lässt sich leicht ein abstraktes Modell herausziehen.

Ein Autor X [„… hatte so viele verschiedene Gesichter: Hier war er ein charmanter Plauderer, ein ironischer Spötter und witziger Parodist, dort ein romantischer Schwärmer und naiver Träumer…“] schreibt vor etwa hundert Jahren ein paar Romane, die über ein Liebhaberpublikum hinausgehen und die sogleich Anerkennung finden bei Autoren, die entweder schon damals [Hesse] oder erst später [Kafka] einen Namen haben. X gelingt es, aus welchen Gründen auch immer, nicht, Kontinuität in die anfänglichen Schreiberfolge zu bekommen. Sein Schreiben wird sporadisch, das Format kleiner [die Gattung des Prosastücks], das Publizieren für einen Außenstehenden schnell unübersichtlich. Seine Bücher sind irgendwann vergriffen, und der Autor ist „tot“ [Anstalt Herisau], bevor er das Zeitliche gesegnet hat. Im Moment seines „zweiten“, nun tatsächlichen Todes erinnert man sich hier und da an X, von dessen Kuriosität man nur mehr ahnt als genauer zu berichten weiß.

Das ist die Stunde des wachsamen Germanistikprofessors [Emrich]. Er beauftragt einen Doktoranden [J.G.], doch einmal etwas Helligkeit in ein Schreiben zu bringen, das nie sonderlich präsent war. Erste Bestände werden gesichtet, mögliche Bezugspersonen ausfindig gemacht. Ein Entdeckerimpuls macht sich positiv bemerkbar, ohne den das Unterfangen gar nicht realisierbar wäre. Der Doktorand ahnt vielleicht gar nicht, was da alles auf ihn zukommt. In diesen Zusammenhängen gibt es immer eine beinah mythische Gestalt [Seelig], die beansprucht, den einzig wahren und damit authentischen Zugang zu dem wieder zu entdeckenden Autor zu gewähren. Niemand kommt um diese machtvolle Person herum. Auch und gerade der Doktorand nicht. Es kommt zu ersten Machtspielen, Kompetenzgerangel, dem Mythos droht die entlarvende Umsetzung in nachprüfbare Rationalität. Das Idol muss zertrümmert werden, um es nachträglich, wenn die ganze Geschichte später erzählt werden kann, wieder in sein Recht einzusetzen, und zwar als erster, wenn auch umstrittener Diener des Dichters [„… Robert Walsers Werk vor dem ziemlich sicheren Untergang gerettet…“].

Das Idol war aber nur die erste Hürde. Neben der eigentlichen Arbeit – vor allem der Sicherung des Bestandes des von X  Publizierten – beschäftigt sich der mittlerweile Promovierte damit, sich mit Leuten, etwa Nachlassverwaltern [Fröhlich], auseinander zu setzen, die erstens weniger Ahnung haben, zweitens ihre Machtposition missbrauchen, drittens aber leider eine juristisch privilegierte Position einnehmen, die sich nicht einfach durch den Nachweis größerer Kompetenz aushebeln lässt. Dass am Ende dieses langen Prozesses, der das Farcenhafte häufig mehr als streift [„… in der Kanzlei hätte ich freilich ohnehin nicht bleiben dürfen, während seine Sekretärin ihre Mittagspause nahm und er selber zum Essen ging.“], tatsächlich so etwas wie eine Gesamtausgabe steht [„Vielleicht wäre es am richtigsten, dachte ich manchmal, sie dem Leser in der Form einer Loseblattsammlung an die Hand zu geben, Bausteine, aus denen er sich nach eigenem Gusto und vielleicht in einem fortgesetzten Spiel selbst ,Bücher’ erstellen kann.“], kommt dem Leser dieser Geschichte mehr als einmal so fiktiv vor wie die Texte, um die es eigentlich geht.

Und weil vielleicht auch Jochen Greven merkt, dass vor lauter Textkorpussicherung, Editionsgeschichte, Streit der Dilettanten, Amateure und Profis und nicht zuletzt Institutionengeschichte um das Werk Robert Walsers das dichterische Wort und seine Eigenart in seinem wie ein Roman zu lesenden Bericht ausgeklammert worden sind, gibt es für die, die bis zuletzt durchgehalten haben, einen Brief Grevens an den toten Dichter Robert Walser zu lesen, der so rührend und altmodisch wie plausibel ist. Jochen Greven hat ein sehr schönes und aufschlussreiches Buch geschrieben.