13. Oktober 2003

Lost in Kulturindustrie

 

"Zukunftsmusik", die Jubiläumsausgabe von "testcard"

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Ein Kompendium im Abstand von einem halben Jahr herauszubringen, das sich mit aktueller Popkultur beschäftigt, ist eigentlich ein Widerspruch in sich selbst. Viele Interpreten bringen in diesem Turnus gleich mehrere Tonträger heraus, und manch noch so spannender Hype ist nach ein paar Monaten auch einfach überholt. Somit stellt die Auswahl für die "testcard"-Redaktion kein leichtes Unterfangen dar. Welche Pressungen sollen im Rezensionsteil besprochen, welche Themen behandelt werden? Nur die neuesten? Denn ist Pop nicht gerade dadurch definiert, dass er "nicht eine Sekunde lang auf die Ewigkeit schielt"? Geht es doch in der Popmusik oder beim Pop-Event um den Moment, um ein Feeling, das auf Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit begründet ist. Die Popsongs und Pop-Accessoires, also die materiellen Güter, die diese Stimulation mit erzeugen, dienen jeweils nur als Gebrauchswerkzeuge, die, wenn nicht in die Sammlung, auf den Müll gehören. Das war es doch, was die Pop-Art uns mit ihren Massenprodukten mitteilen wollte. Den Verweis der Güter auf ihre bloße Funktion für den kommunikativen Prozess.

 

Von Popgeschichte zu reden, bedeutet daher immer schon eine nachträgliche Rekonstruktion. Für die Macher von "testcard" allerdings eine notwendige. Soll Pop mehr sein als ein Marktsegment, bedarf es einer fundierten Reflexion über Pop, die über das journalistische Tagesgeschäft hinausgeht? Dem Vorwurf, durch eine derartige Historisierung, eine Einteilung nach Wertigkeit und Relevanz, zugleich einen Kanon festzuschreiben, wird entgegnet, dass "testcard" weniger selbst einen Kanon zementiert, als vielmehr einen bereits vorhandenen korrigiert. Ein nicht ganz uneitles Unternehmen.

 

Der Herausgeber Martin Büsser hat versucht, den Standpunkt von "testcard" zwischen den zwei dominierenden linken Poptheorien in Deutschland zu verorten. Im Gegensatz zu Günther Jacob, für den Pop letztlich dazu dient, im kulturellen Feld gefangen, das Politische zu kulturalisieren, wird bei "testcard" an der emanzipatorischen und politischen Kraft von Pop festgehalten. Andererseits wird dem "Spex"-Jargon misstraut, der im Pop ein "Flottieren der Zeichen" sieht, die eine kapitalistische Wertestruktur irgendwie zu unterwandern wüssten.

 

Wer auf die Internetseite von "testcard" geht, entdeckt als Seitenhintergrund zig geklonte Adornos, dazu den Schriftzug "100 % culture industry". Auch wurde bereits eine ganze Ausgabe dem Frankfurter Dialektiker gewidmet. Doch muss das Wissen darum, dass Popkultur eine Ware ist, nicht anders als jede andere Form von Kunst, nicht notwendigerweise dazu führen, Pop generell zu verurteilen - solange es möglich ist, ästhetischen Strategien trotz ihrer Warenform eine politische Wirksamkeit zuzugestehen. "Was wüssten wir von den Bedingungen in der Bronx und in Brooklyn, wenn es die Ware LP oder CD nicht gäbe, die davon berichtet?" Im Mittelpunkt von "testcard" steht daher die ästhetische Untersuchung der Popkultur. Die Artikel versuchen "all den Bedingungen nachzugehen, über die sich das Scheitern von Gegenkulturen erklären lässt, aber auch jene Momente, in denen sie aufgrund einer ganz spezifischen Ästhetik zu verstören wussten".

 

Das sieht stark nach Rückzugsgefechten aus. Vielleicht drückt sich der noch gebliebene Optimismus allein im Erscheinen der Zeitschrift selber aus. Es ist die aus poplinken Kreisen bekannte Spannung zwischen Sympathie und Kritik ihrem Gegenstand Pop gegenüber, die von den hier versammelten Autoren bei allen noch so unterschiedlichen Artikeln stets mitgedacht wird. Dabei hebt sich "testcard" von anderen Diskurs-Bänden durch die Liebe zum Detail ab. Die sich in das subkulturelle Schreiben über Pop eingeschlichenen Akademismen, die nicht zuletzt dem Bedürfnis geschuldet sind, sich von der Schreibweise der bürgerlichen Presse abzugrenzen, bleiben dank der inhaltlichen Souveränität auf ein Minimum beschränkt. Die Weite des verwendeten Pop-Begriffs wird dadurch aufgewiesen, dass neben Musik auch Videokunst, Comics, Filme, Architektur und anderes mehr behandelt werden.

 

Wenn "testcard" in ihrer zehnten Ausgabe das Thema "Zukunftsmusik" wählt, geht es dabei nicht nur um Prognosen, in welche Richtung sich bestimmte Musikstile bewegen werden, sondern vor allem um die Zukunftsfähigkeit des Projekts Pop überhaupt. In seinem Einleitungsartikel kommt Roger Behrens allerdings zu weitgehend resignativen Ergebnissen. Er behauptet, Popmusik sei ein Zukunftsschock: "Das Schockierende besteht in der Ähnlichkeit, mit der die neue Kultur bloß die alte wiederholt." Das erinnert doch sehr an den Eingangssatz von Adornos Kulturindustrie-Kapitel, ist aber angesichts der nicht enden wollenden Retro-Wellen eine Analyse, die erneut an Brisanz gewonnen hat. Da der Popinformation jegliche Tendenz und Latenz fehle, die Abfolge von Moden das Resultat einer Flucht vor dem ständigen Veralten, nicht aber das eines linearen Fortschreitens künstlerischer Formentwicklung darstelle, können wir wohl mit keiner anderen Zukunft rechnen außer der Gegenwart. Wer wie Behrens Pop mit der Ausdifferenzierung des modernen Kapitalismus identifiziert, andererseits aber der kapitalistischen Gesellschaft jegliche Fantasie für den Entwurf einer Kultur jenseits des Pop abspricht, dem bleibt schließlich nur noch die Taktik der Avantgarde, sich darauf beschränkend, den Datenfluss zu unterbrechen. Woher jedoch die Motivation zu solcherlei Irritation kommen soll und wo der Ort der Kritik zu veranschlagen ist, wenn das System tatsächlich so geschlossen ist, bleibt weiterhin fraglich.

 

"Das klingt / als wenn auff der Erden ein düster Zeit anbrochen were / denn wo Verneuerung were / brauchets kein Red darob", spricht die Hohepriesterin bei der "testcard"-Lektüre im fantasyhaft aufgemachten Editorial. Und so fallen die Zukunftsentwürfe in den meisten Artikeln auch verständlicherweise eher verhalten aus. Da ist einerseits der Ausblick in die nähere musikalische Zukunft, wenn die Künstler Diego Badian und Günter Schroth zu ihren elektronischen Arbeitsweisen mit Barcode und Gameboy befragt werden. Andererseits werden neue Ansätze in altbekannten Diskursen angedacht. In einer ausführlichen Untersuchung über die britische Band "Belle and Sebastian" erweist sich deren "Ästhetik des Weichen" als "blinder Fleck der ästhetischen Diskursordnung" und damit als "Hebelpunkt" für eine Kritik an ihr unter der "Perspektive von Gender". Trotz weltweiter Medienignoranz können sich bestimmte lokale Musik-strömungen immer noch halten, was der Prognose einer Unausweichlichkeit der gleichmachenden Weltmusik widersprechen würde. Anhand der Simpsons-Nachfolge "Futurama" wird gezeigt, wie die Autoren der Serie die Hoffnungen und Enttäuschungen, die mit den utopischen Entwürfen der popkulturellen Science-Fiction verbunden waren, thematisieren und aktualisieren. Und in der Videokunst von Chris Cunningham findet sich eine Verschränkung von genießendem und kritischem, voyeuristischem und analytischem, assoziativem und dekonstruierendem Blick. Darin besteht wohl der Traum eines jeden Poptheoretikers: Spaß und Revolution in einem Päckchen verschnürt, das auch in weiter Zukunft nicht so leicht zu knacken sein wird.

 

Vor nicht allzu langer Zeit hat Thomas Assheuer in der "Zeit" zehn Thesen zur Popkultur aufgestellt. Sein Schlussplädoyer lautete, Pop müsse sich auf sich selbst anwenden. Ein gutes Beispiel dafür, dass Pop dies schon immer getan hat und dass Kritik unabdingbar zur Programmatik von Pop gehört, bietet "testcard" auch in seiner neuesten Ausgabe.

 

 

Martin Büsser: testcard - Beiträge zur Popgeschichte. Nr. 10: Zukunftsmusik.

Ventil Verlag, Mainz 2001.

304 Seiten, 14,30 EUR.

ISBN 3931555097