13. Oktober 2003

Du wirst dich schämen für deine Jugend

Von Gustav Mechlenburg

 

 

Ist so viel Naivität in der Literatur überhaupt erlaubt? Zumindest scheint sie von der Autorin beabsichtig. Als wenn es so etwas wie Feminismus, Psychoanalyse und Girlism nie gegeben hätte, lässt sich die Icherzälerin Agnes in Silvia Szymanskis neuem Roman von Männern und ihren Fantasien ausnutzen. Man könnte sich als Leser über alles aufregen. Das Problem ist nur, dass Agnes an diesen Sexismen und Erniedrigungen selbst Gefallen hat.

 

Hardcore-Porno

 

In der Zumutung dieses Dillemas ist wohl der Schlüssel zu dem Roman "Agnes Sobierajski" zu finden. Szymanski strapaziert die pornographischen Details bis zum Exzess. Man fühlt sich andeutungsweise gar an American Psycho erinnert. Und wie dort die Banalitäten der Konsumwelt schwächt hier die parallele Beschreibung des Babysitterjobs der Protagonistin das allzu Unerträgliche ab. So naiv Agnes in der Erwachsenenwelt agiert, so abgebrüht redet sie mit den und über die ihr anvertrauten Kinder. Szymanski beherrscht das sprachliche Zusammenspiel von Naivität und Abgeklärtheit perfekt.

 

Sex und Pop

 

Ausgelöst durch den Eklat im Literarischen Quartett ging es in den Feuilletons dieses Landes erneut um die Frage, wie viel Sex die Literatur verträgt. Im Spiegel schrieb Volker Hage einen langen Essay mit dem Titel "Im Wunderland der Triebe" über den Streit um das Erotische in der Literatur. Von Flaubert bis Günther Grass, von Updike bis Ellis wurden die intimsten Romanstellen auf ihren Nutzen für die Kunst analysiert. Doch funktionieren diese Interpretationen nur unter Ausschluss von Pop.

 

Und genau darum geht es Silvia Szymanski, die auch als Rocksängerin von sich Reden macht. Erst kürzlich äußerte sie sich auf einer Tagung in Tutzing zur deutschen Gegenwartsliteratur, an der auch Maxim Biller, Rainald Goetz und Christian Kracht teilnamen, mit dem Plädoyer: "Ich habe Pop immer geliebt, weil man Pop verstehen kann, ohne studiert zu haben." Studiert haben muss man wirklich nicht, um ihre Bücher lesen zu können. Allerdings erfordert es doch ein genaueres Hinsehen, um von der scheinbaren Banalität nicht geblendet zu werden.

 

Feine Gefühle

 

Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass es bei der oft schamlosen Beschreibung der Geschlechtsakte doch immer auch um Gefühle geht. Sex ist für Agnes like in the 70th Befreiung und Revolte, gerade auch wenn sie nicht über die Situationen bestimmen kann. Es sind die nachfühlbaren, gänzlich unromantischen Lüste, die zugleich verstörend wirken. Sei es dass man sie sich nicht zugesteht, oder dass man sie in "feinere" Gefühle eingebettet wissen will.

 

Scham und Schande

 

Auch wenn der Roman resignierend wirkt und von Spannung keine Rede sein kann, hat man es hier aber immerhin mit einer Literatur zu tun, die sich wohltuend von den heterosexuellen weißen männlichen Mittelklasse-Schreibern abhebt. Von Coolness und Ironie keine Spur. Diedrich Diederichsen hatte in dieser Zeitung geschrieben: "Deutsche Schriftsteller produzieren wieder eine Ironie, die auf einem Normalfall aufruht, einer deutschen Mittelklasse-Normalität, für die sich keiner mehr schämt." Silvia Szymanski schreibt auch vom Normalfall, aber Scham wäre bei jeder Zeile angebracht.

 

 

 

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Sylvia Szymanski: Agnes Sorbierajski, Hoffmann und Campe 2000