13. Oktober 2003

Leidensbereit

 

Ralf Rothmanns Erzählband "Ein Winter unter Hirschen"

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Titel wie "Erleuchtung durch Fußball", "Gesang der Hunde", "Das Bullenkloster" oder eben "Ein Winter unter Hirschen" klingen viel versprechend, eben weil man sich kaum etwas unter ihnen vorstellen kann. Alle zwölf Erzählungen, die Ralf Rothmann im letztgenannten Band versammelt hat, lösen Erwartungen ein. Doch man weiß weder welche noch wodurch.

 

In den Geschichten geht es meist um alltägliche Erfahrungen. Irene hat sich nach zwei Jahren Ehe von Matze scheiden lassen. Der muss ausziehen und darf das Haus - auf richterliche Anordnung hin - nicht mehr betreten. Freunde von Irene helfen beim Möbelschleppen und sollen sie vor einem Eklat bewahren. Dass Matze ausrasten würde, ist jedoch von vornherein unwahrscheinlich. Dennoch liegt die gesamte Zeit über eine bedrohliche Stimmung in der Luft.

 

In einer anderen Erzählung sorgt sich ein von der Kündigung bedrohter Drucker um sein Haus, während er auf eine Fußballübertragung im Fernsehen wartet. Er glaubt, dass er irgendetwas im Leben falsch gemacht haben muss, denn in seiner Wohngegend ist er der erste, der das Haus morgens verlässt, und der letzte, der abends wieder nach Hause kommt. Überall in den Nachbarhäusern, mit dicken oder modischen Autos vor der Tür, brennt dann schon Licht, und die arbeitenden Väter haben Zeit für ihre Kinder. Den ganzen Abend wechselt er kaum ein Wort mit seiner Frau, die sich für Feng Shui begeistert. Und man erwartet einen Streit oder eine Unstimmigkeit zwischen beiden. Doch als er nach dem Fußballspiel ins Bett geht, wird er liebevoll "Dummerchen" genannt und unter die Decke gezogen.

 

Banale Situationen, nichts Aufregendes. Und doch wird man als Leser durchweg unter Spannung gesetzt. Zum wiederholten Male lässt sich Rothmanns Erzählkunst herausheben - die Reinheit und Klarheit seiner Sprache, die Wärme, mit der er seine Figuren beschreibt, die Dramaturgie. Aber das ist es nicht allein. Seine Situationen sind einfach wahr, man kennt sie genau so.

 

Rothmann kann nicht nur erzählen, er hat auch einen Blick dafür, was es zu erzählen gibt. Und darüber hinaus belässt er es nicht bei der Beobachtung von außen, sondern geht, etwa in der Ich-Perspektive, so weit in die Charaktere der Figuren hinein, dass ihre Sehnsüchte, Ängste und Erwartungen allein schon durch die Beschreibung ihrer Gestik und Mimik aufscheinen.

 

Wie auch in seinen zahlreichen Romanen, die teils im Ruhrpott, teils in Berlin spielen, sind es einfache Menschen, die Rothmann interessieren. Sie reden nicht viel. Sind meist nicht Handelnde, sondern Leidende. Gefühle werden im Zaum gehalten und ebenso lakonisch wie ihre Haltung ist der Erzählstil des Autors. Und doch, hier wird kein Grau in Grau gemalt, sich nicht an einer Tristesse ergötzt. Der Schauer und das Unbehagen, das sich bei der Lektüre einstellt, sind nur ein Spiegelbild der Wünsche und Hoffnungen der dargestellten Figuren. Auch wenn sie erkannt haben, dass ihre Träume im Nichts versickert sind, so haben sie dennoch die Erinnerung an diese und warten insgeheim doch auf das Wunderbare, das nicht eintritt.

 

Rothmann hat erst kürzlich einen Gedichtband mit dem Titel "Gebet in Ruinen" veröffentlicht. Darin sind teilweise recht mystisch-religiöse Verse enthalten. Ein Thema, das ihn immer wieder einholt, hier in mindestens drei Geschichten zum Tragen kommt und auch im Motto von Cesare Pavese durchklingt: "Eine furchtbare Kraft ist in uns, die Freiheit. Man kann die Unschuld berühren. Man ist zum Leiden bereit."

 

Eine unbestimmte Religiosität scheint hier durch, fernab von jeglichem Dogma, zum Glück auch bar jeder Esoterik. Ein Ausdruck für die Sehnsucht nach einem Halt in einer auseinander brechenden Welt.

 

Ralf Rothmann: Ein Winter unter Hirschen. Erzählungen.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.

200 Seiten, 19,40 EUR.

ISBN 351841268x