13. Oktober 2003

In der Tiefe des Potts

 

Nüchterner Blick zurück auf den untergegangenen Westen: In "Milch und Kohle" erzählt Ralf Rothmann von Wochenenden, Staublungen und Ratenzahlungen im Ruhrgebiet

 

Von Gustav Mechlenburg

 

"Die wirklich Trauernden erkennt man an ihrem Humor." Das sagt ein Beerdigungsunternehmer zu dem Ich-Erzähler in Ralf Rothmanns neuem Roman. Wirklich nachzutrauern scheint der Autor seiner Kindheit, die er hier beschrieben hat, allerdings nicht. Seine vorangegangenen Bücher lebten gerade durch die selbstironischen Zwischentöne, die Rothmann sehr pflegte. In "Milch und Kohle", dem neuen Roman, klingen sie eher verhalten. Der nüchterne Blick auf eine untergegangene Welt, auf das Ruhrgebiet der späten Sechzigerjahre, ähnelt stellenweise eher einem ethnologischen Bericht.

 

Zuletzt, in "Flieh mein Freund", hat Rothmann von einer Jugend im Berlin der Neunziger erzählt. Nun springt er also um Jahrzehnte zurück; und zunächst bleibt fraglich, was ihn an dem spießigen Arbeitermilieu interessiert, in dem er landet. Mit schwierigen, sperrigen Themen hat sich Rothmann häufig auseinandergesetzt. In der Erzählung "Windfisch" schilderte er einen deutschen Reisenden, den seine Nazivergangenheit einholt. "Flieh mein Freund" handelte vom Generationskonflikt zwischen Achtundsechziger-Eltern und Neunziger-Jugendlichen.

 

Solche Konflikte kommen in seinem neuen Buch nicht vor. Es ist ein gänzlich unpolitisches Buch. Und doch vermittelt es das Bild einer Zeit, das für das Verständnis der heutigen Bundesrepublik erhellend ist.

 

Die Welt seiner Eltern und Freunde: Bergbau und Bier, Pommesbuden und gehäkelte Klorollenbezüge. Die Jugend ein Film, eine Zwischenstation.

 

Und Rothmann nimmt ein Motiv wieder auf, das ihm ein ständiger Stachel zum Erzählen zu sein scheint. Bereits in seinen Romanen "Wäldernacht" und "Stier" thematisierte Rothmann seine Jugend im Ruhrgebiet. Man kommt kaum drumherum: Der erneute Versuch einer Rekonstruktion der eigenen Geschichte wirkt wie die Bearbeitung eines Traumas. Das dem Roman vorangestellte japanisches Sprichwort bringt die Aussichtslosigkeit einer vollständigen Selbstvergewisserung auf den Punkt: "Seit Tausenden von Jahren versuche ich zurückzukehren. Doch unaufhörlich wächst wildes Gras vor dem Tor des Tempels."

 

Rothmann kann nicht lassen von der Suche nach den Bedingungen und Umständen, die ihn geprägt haben. Vielleicht erklärt sich das daraus, dass es nichts zu finden gibt. Der Protagonist von "Milch und Kohle" ist ein Beobachter aus der Fremde. Unbeteiligt und willenlos reflektiert der junge Simon die Welt seiner Eltern und Freunde. Bergbau und Bier, Pommesbuden und gehäkelte Klorollenbezüge. Die Jugend ein Film, eine Zwischenstation.

 

Kommen in den Alltagsbeschreibungen auch keine offenen Konflikte zum Vorschein, so tritt doch die Ausweglosigkeit des Lebenskonzepts der Eltern zutage. Ihr Traum vom kleinen Glück in der Stadt zerbricht. Feierabend und Wochenende sind von Exzessen bestimmt, Staublungen und Ratenzahlungen dominieren die gesellschaftliche Situation.

 

Die Welt der Eltern ist in sich abgeschlossen, unflexibel und zum Scheitern bestimmt. Wer mag, kann aus dem tiefen Westen zugleich eine Parabel auf den späteren Niedergang des Ostens herauslesen.

 

Von dem ganzen Gerede um Generationen in der deutschen Literaturlandschaft hebt sich hier ein Autor ab, der sehr genau weiß, wo er herkommt, aber darum noch lange nicht, wohin es geht. Nicht umsonst endet "Milch und Kohle" in einem japanischen Zen-Kloster, in das zwei einstige Freunde zwar aus derselben Vergangenheit, aber mit sehr unterschiedlichen Motiven gelangen.

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Ralf Rothmann: "Milch und Kohle". Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 216 Seiten, 36 DMRezension

taz Nr. 6100 vom 23.3.2000 Seite IV Literataz 126 Zeilen

Kommentar GUSTAV MECHLENBURG

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