20. September 2003

Literatur-Pop

Mit seiner Studie „Der deutsche Pop-Roman“ ist Moritz Baßler, Assistent am Lehrstuhl für neueste deutsche Literatur in Rostock, ein großer Wurf gelungen. Man muss das Buch nur richtig zu lesen wissen. Auf keinen Fall sollte man es als einführendes Lehrbuch zum deutschen Poproman verstehen. Dafür ist Baßlers Herangehensweise zu speziell, denn im Grunde handelt es sich nur um eine einzige These, die er anhand ganz unterschiedlicher Literatur zu überprüfen versucht.

 

Das Hauptargument lautet: „Wenn das Neue als Ergebnis einer Tauschhandlung zwischen anerkannter Kultur und der Welt des Profanen zustande kommt, dann ist Pop, als Medium des Neuen, zuallererst eine Archivierungs- und Re-Kanonisierungsmaschine.“

 

Dass Pop etwas mit staubigen Archiven zu tun haben soll, verwundert zunächst, erklärt sich aber aus dem Ansatz, aus dem Baßler diese These entwickelt. Er bezieht sich damit auf die Kunsttheorie von Boris Groys, nach der das Neue nur dann neu ist, „wenn es nicht einfach nur für irgendein bestimmtes individuelles Bewusstsein neu ist, sondern wenn es in Bezug auf die kulturellen Archive neu ist.“ Der Bereich, der von den Archiven nicht erfasst ist, ist der profane Raum. Kunstgeschichte ist danach also die Geschichte immer neuer Aneignungen aus dem unerschöpflichen Reservoir des Profanen.

 

Nach Baßler unterscheiden sich die neuen Popautoren von anderen Literaten nur in einem Punkt, dem Archivismus. Sie erweisen sich als Vertreter eines lustvollen neuen Archivismus, der seit etwa 1990 die Gegenwart in die deutsche Literatur zurückkehren lässt.

 

Das ist ein überaus spannender und intelligenter Ansatz. Denn nicht Stilfragen oder müßige Kulturkritik bilden die Folie zur Begriffsbestimmung der Popliteratur, sondern der in ihr beschriebene und aufgehobene Diskurs. Gerade die viel gescholtene „Oberflächlichkeit“ der neuen Literatur versteht Baßler nicht als defizitäre Abweichung, sondern als Phänomen eigenen Rechts. Denn wo es keinen archimedischen Punkt außerhalb der kulturellen Enzyklopädie gibt, die Kultur der Gegenwart und somit unsere Sprache immer schon medial und diskursiv vorgeformt ist, lohnt die Beschreibung von Markenartikeln, Popsongs und Alltagsreflexionen zur literarischen Erfassung von Wirklichkeit.

 

Als Leitdifferenz seiner Untersuchung stellt Baßler den Gegensatz realistisch/diskursiv auf. Realistische Literatur, die sich am filmischen Plot orientiert, Problematisches oder gar Eigentliches versucht zu beschreiben, steht in der Gefahr, unironisch und im schlechten Sinne zeitlos zu sein. „Sie wollen Literatur im emphatischen Sinne sein, Kunst; und das meint offenbar immer noch: so verdichtet, so zeitlos und schwerwiegend wie möglich und also in größtmöglicher Distanz zur bunten Waren- und Medienwelt.“ Viele realistisch schreibende Literaten bemühen sich daher immer noch um möglichst allgemeine Gegenstandsbezeichnungen. „Mit einem Dutzend Markennamen wäre zwar ein komplettes Soziogramm einer Person zu erstellen, aber eine Literatur, die dieses Potenzial nutzen würde, gäbe damit ihren Anspruch preis, selbst die Instanz zu sein, die das Beschriebene in seinem Wesen definiert. Dahinter verbirgt sich das literarische Ideal, erste Worte zu sprechen, sich wenigstens sprachlich vor dem Geplapper der Diskurse zu verorten.“ Erstaunlicherweise fallen unter diesem Gesichtspunkt so unterschiedliche Autoren wie Peter Handke und Rainald Goetz zusammen. Hatte Handke in seiner „Winterlichen Reise“ nach Serbien versucht zur vordiskursiven Wirklichkeit vorzudringen, so will Goetz bei seiner Suche nach einer Gefühlsrealität, der die Sprache nicht beikommen kann, archivieren, was noch nicht Diskurs ist. Beides sind Baßler zufolge sentimentalistische Projekte.

 

Besonders polemisch richtet sich Baßler gegen die Inhaltsversessenheit realistischer Literatur. Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ galt bei den Kritikern nach Erscheinen als glänzendes Beispiel eines „neuen Erzählens“. Für Baßler dagegen ist der erfolgreichste deutsche Roman der 90er Jahre nicht viel mehr als ein wunderlicher Männerphantasie entsprungener unglaublicher Kitsch. Das viel gepriesene schnörkellose Erzählen gerät bei näherem Hinsehen immer wieder ins Reflexive und Sententiöse. Baßler zeigt daran exemplarisch die Probleme, „die ein realistisch-fiktionales Erzählen, zumal mit historischem Anspruch, bekommt, weil es den Einzelfall plotten, aber stets das Allgemeine meinen muss, um zu funktionieren“.

 

Dem gegenüber favorisiert Baßler das kumulative Verfahren, das eine Situation nicht als individuelle, sondern als Essenz zahlreicher ähnlich erlebter Situationen aufzeichnet, so wie Andreas Mand in seinem Roman „Grover am See“. Für Baßler zeigte sich in diesem 1992 erschienen Buch erstmals eine neue Art des Schreibens. Erstaunt und zugleich erleichtert war Baßler, als am Ende der Lektüre nichts zum Vorschein kam, auf das er als guter Germanist die ganze Zeit über gewartet hatte. In der neuartigen, ungezwungenen Prosa suchte er ständig nach Anzeichen der wahren Bedeutung des Textes. Kindesmisshandlung, Homosexualität etc. Doch hier gab es keine Tiefenstruktur. Das Buch war nicht von einem gesellschaftlichen oder sonstigen Problemen her geschrieben. Details aus der Kindheit, wie beispielsweise der Religionskrieg zwischen Geha und Pelikan, stehen für sich und eine ganze Welt. Als gelungen gilt ihm der Roman insbesondere, da hier das Erzähl-Ich und das erzählte Archiv ineinander fallen. Mand gelingt die Erzählerinstanz im Archiv. Im Gegensatz zu anderen Autoren, die Kindheitswelten nur für Pointen in der Erwachsenenwelt konstruieren.

 

Dafür entgeht solcher Art Literatur der Spielraum, in dem eine Distanzierung von den Archiven der dargestellten Welt, die die eigene war oder ist, möglich ist. Als Beispiel hierfür kann auch Thomas Meinecke gelten. Sein etwa in „Tomboy“ angewandtes Verfahren der konsequenten diskursiven Übedeterminierung setzt den (Gender-)Diskurs, um den es geht, viel zu sehr voraus, als dass er ihn in seiner Geltung ernsthaft infrage stellen könnte.

 

Dass Popliteratur dem beschriebenen Archiv gegenüber nicht affirmativ sein muss, sondern in der Suche nach neuen Ausdrucksmitteln auch subversiv oder zumindest kritisch-reflektiert sein kann, zeigt Baßler erstaunlicherweise gerade an Thomas Brussigs „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ und „Helden wie wir“. Der Schrecken der DDR wurde darin nach Meinung des Wissenschaftlers nicht verharmlost, sondern in einer zugleich populären und komplexen Form codiert. „Pop kann und will nicht Schande schreien, hat aber, so zeigt sich, längst so seine eigenen Verfahren der Erinnerungskultur entwickelt.“ Ähnlich positiv schneidet Benjamin Stuckrad-Barre in der Untersuchung ab. Anhand seines Romans „Soloalbum“ zeigt Baßler die hohe Reflexivität der Popliteratur, die sprachlich nicht zuletzt auch von den Kolumnen Max Goldts geprägt wurde. „Mit jedem Satz positioniert sich der sprach- (kultur-, szene-)bewusste Erzähler auch selbst, und anders als in Christian Krachts ´Faserland´ weiß er darum und prägt dieses Wissen seine Prosa.“ Eine besorgte Diagnose dieser Generation, die anlässlich „Generation Golf“ und „Tristesse Royale“ betrieben wurde, bleibt Baßlers Studie zufolge schlicht hinter dem Komplexitätsniveau der Inszenierung zurück.

 

Nur den wenigsten Lesern wird wohl ersichtlich sein, warum Moritz Baßler nach solch differenzierter Analyse schließlich einen Autor nennt, der seiner Meinung nach zukunftsweisend für die deutschsprachige Literatur ist. Bei dem österreichischen Thriller-Schreiber Wolf Haas sieht er die von ihm favorisierte Synthese von neuem Archivismus und Erzählliteratur geglückt. „Haas kodiert sehr konsequent eine postmoderne Poetologie ohne Hinterwelten.“ Das mag wohl stimmen. Doch hatte der anfangs beschriebene Ansatz der Studie doch gerade den Vorteil, keine letztgültigen Stilvorgaben machen zu müssen, um gute und Popliteratur zu erkennen. Ob Haas` Thriller tatsächlich die historischen Romane der Gegenwart sind, bleibt also abzuwarten. Dass Baßler ein ungemein bedeutendes und unterhaltsames Buch zur Diskussionen um den deutschen Poproman geschrieben hat, ist immerhin sicher.

 

Gustav Mechlenburg

 

Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Beck`sche Reihe 2002