18. September 2003

Des Romans Vergangenheit. Eine literarisierte Inventur

Keith Ovenden, Des Glückes Schein. Roman, München 2002 (C.H.Beck)

 

Der Unterschied zwischen einem Philosophen und einem Philosophiedozenten besteht darin, dass der Philosoph aus seiner alten Tonne nicht herauskommt. Anders jedoch als noch zu Diogenes’ Zeiten ist die Sonne heute entweder ganz verschwunden, oder es gibt einfach zu viele, die sie verstellen. Die Tragödie des Philip Leroux, die in diesem Roman, dem zweiten Teil einer Trilogie, erzählt wird, besteht darin, dass Philip beides ist, Philosophiedozent und Philosoph. Das führt zum Beispiel dazu, dass er auch im Alltag Fragen stellt, die streng genommen nur ins universitäre Seminar gehören (und das ist auch noch das von Oxford). Seine Frau Alice kann ein Lied davon singen, und dieses Lied, was aber kein Klagelied ist, ist zu einem großen Teil „Des Glückes Schein“. Das ist auch der Grund, warum das Buch kein Intellektuellenroman ist. Erzählt wird es zum größten Teil von Alice, die in einem Wirtschaftsplanungsbüro vor allem „Drafting“ betreibt (komplexe Zusammenhänge für Spitzenmanager transparent und operationabel machen) und sich, nach dem Tode ihres Mannes, der bei einem Autounfall ums Leben kam, in ein Chalet in Frankreich zurückzieht, um für Felix, einen Freund und Kollegen ihres Mannes, dem gleichzeitig dieses Ferienhaus gehört, eine Art Würdigung ihres Mannes zu verfassen.

Von ihrer Profession her stehen also Alice und Philip für entgegengesetzte Prinzipien: auf der einen Seite vereinfachen, auf der anderen permanent hinterfragen. Aber auch im Alltag scheint Alice – wie Philip mit seinen Fragen – sich von ihrem beruflichen Procedere leiten zu lassen. Während ihres Aufenthalts in Frankreich macht sie unter anderem die Bekanntschaft der skurillen Beatrix, einem ehemaligen Star der Musikszene, die ein Nachbarhaus bewohnt und dabei ist, sich tot zu saufen. Ohne sich von der total heruntergekommenen, versifften und stinkenden Wohnung irritieren zu lassen, tut Alice alles, um der agonierenden Beatrix zu helfen. Dem Pragmatismus Alice’ wird im ersten Teil des Romans ein Doppelportrait Philips gegenübergestellt, das ihn zum einen aus der Sicht seiner Frau, zum anderen aus seiner eigenen als Dämonologen kennzeichnet. Alice’ Vermutung, dass Philip den Dingen und Menschen nicht traute und diese Haltung sich mit der Zeit immer stärker zu einer sich von der Welt abkapselnden Melancholie auswuchs, wird raffinierterweise von einem Manuskript Philips vorbestätigt, das Alice unter den Unterlagen ihres Mannes findet, und das eine Art Bekenntnis oder Autobiografie des 24-jährigen Philips ist, wo er eine Urlaubsepisode als 16-Jähriger beschreibt.

Die Distanz Philips zu seinem eigenen Leben zeigt sich schon darin, dass dieser „Jugendroman“ nicht aus der Ich-Perspektive erzählt wird. Die erotischen Irrungen und Wirrungen werden literarisiert, die intellektuellen Spitzfindigkeiten vor allem Philips gefeiert, aber auch angeprangert. Als ob sich in diesen für alle Beteiligten irgendwie tragisch endenden Urlaubsereignissen ein undurchschaubarer Knoten gebildet hätte, den die Redseligkeiten der jungen Leute nur um so hartnäckiger zu ummänteln schienen und der immer noch auf eine Lösung wartete, kommt es im dritten Teil des Romans zu einer Reprise der zum Teil fiktionalen Autobiografie, in der von den nunmehr schon in die Jahre gekommenen Personen eine etwas andere Sicht auf Philip und auf den Status verschiedener anderer fällt. Auch wenn diese Enthüllungen ganz ernsthaft erzählt werden, kann der Leser doch auch an Shakespeare denken, an die „Komödie der Irrungen“, überhaupt an Verwechslungskomödien. Der Erzähltenor bleibt wie gesagt ernst, steigert sich bisweilen ins Tragische, und die Frage, ob es sich bei Philips Unfall vielleicht um Selbstmord gehandelt hat, was besonders die Vorkommnisse des zweiten Teils des Romans nahe legen, nimmt der Philosoph mit ins Grab.

Aber das eigentlich Komische des Romans liegt in seinem anscheinenden Trotz, seiner Vertracktheit, von der der Leser irgendwie ahnt, dass sie gewollt, riskiert ist. Dieser Roman ist erstaunlich altmodisch, bedächtig, ausführlich, gegen heute sich avanciert gebendes Fabulieren erzählt. Die ganze Charakterologie ist intakt. Was den Beziehungsroman wieder möglich zu machen scheint. Das Psychologisierende. Manchmal hat man der Eindruck, „Des Glückes Schein“ sei die Romanumsetzung einer 1990er Verfilmung eines Romans aus dem 19. Jahrhundert. Viele Beobachtungen im Roman (vor allem von Alice) sind so fern von heute (eine Art Reflexionsnaivität), obwohl der Roman heute spielt (mit den Abstechern der „Bekenntnisse“ in die Vergangenheit der Protagonisten, also in die 1970er Jahre). Formal bestätigt sich das Altmodische mit der Entscheidung, den Roman als Briefroman anfangen zu lassen. Mit zwischengeschalteten literarischen „Funden“. Beinah sentimental werden die jeweiligen Briefabschnittsschreibbeginne hypergenau und ein bisschen albern festgehalten (also: Sonntag Nacht, sehr spät, fast schon Montag Morgen – aber das ist keine Parodie). Dann die Krankengeschichte des zweiten Teils als Leidensgeschichte eines authentisch Lebenden (der radikale Philosoph). Schließlich der dritte Teil als Auflösung bisher undurchschauter Familienverhältnisse in vertrauter romantischer Manier und die schlussendliche Essenz, der Gehalt des Romans der geläuterten Ehefrau: „Und so habe ich am Ende vielleicht doch noch verstanden, was Philips Thema war: warum er aus irgendeinem Grund unfähig war, die Liebe, die wir ihm entgegenbrachten, anzunehmen; warum er sich von dieser Liebe so überwältigt fühlte, dass er sie von sich wies, sie ablehnte und dann all die innere Leere und Einsamkeit ertragen musste.“ Wen diese gewissermaßen klassische Larmoyanz erreicht, der sollte zu diesem Buch greifen, wen nicht, der lese es als exquisites Kapitel aus dem Kuriositätenkabinett.

 

Dieter Wenk