13. Oktober 2003

Modell Europa

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Kann Europa als Modell für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts fungieren? Das ist die Frage, die einer Diskussionsveranstaltung im Pariser Senat unter dem Titel „Begegnung Frankreich - Österreich“ zugrundelag. Die jetzt als Buch erschienenen Beiträge grenzen sich von den üblichen Globalisierungsdebatten ab, indem sie erneut die Eigenart und  Zukunftsfähigkeit Europas insbesondere in kultureller Hinsicht diskutieren.

 

Entgegen der oft zitierten These Huntingtons („clash of civilizations“), Europa sei grundsätzlich auf derselben Stufe wie andere große Zivilisationen, bekräftigen die Autoren trotz der verheerenden Irrwege, wie Kolonialismus und Nationalismus, die Überzeugung, dass Europa als geistig prägendes Element weiterhin weltweit wirkt. Und zwar gerade aufgrund des dem europäischen Denken innewohnenden Selbstzweifels. Pascal Bruckner behauptet, Europa sei die erste Zivilisation der Geschichte, die eine Reflexion über ihre eigenen Verbrechen betrieb. Der Selbsthass als naive Hoffnung auf Erneuerung sei also von vornherein angelegt. 

 

Die Universalität europäischen Denkens liegt danach in dem Hineinnehmen des Barbaren in die Humanität selbst. Wie sich daraus eine europäische Kultur entwickeln konnte und eine Identität für die Zukunft entstehen kann, bleibt eine offene Frage. Der inflationäre Gebrauch des Wortes Kultur macht deutlich, dass es sich hierbei, wie Thomas Macho treffend erläutert, um die Folgen der Säkularisierung handelt. Kultur dient entweder als Restutopie oder als Resignation, je nachdem, welche Ebene man betrachtet. Zivilisatorischer Fortschritt auf der einen oder ethnische Atavismen auf der anderen. 

 

Die Meinungen der Autoren darüber, was unter einer europäischen Identität verstanden  werden kann, gehen denn auch extrem auseinander. Joel Roman hält den Frieden in Euopa allein durch eine „Identität der Macht“ gewährleistet. Der Frieden kann seiner Meinung nach nur durch militärische und diplomatische Verteidigung garantiert werden. Dagegen betonen Adolf Holl und Wolfgang Müller-Funk die Notwendigkeit historischer Kontinuität und verbindender Erzählungen. Denn nur ein durch perspektivisch gebrochene Geschichten getragenes Wir-Gefühl vermag Solidarität zu stiften, die ihrer Ansicht nach Voraussetzung für das gemeinsame europäische Handeln ist. 

 

Ganz andere Aspekte verbinden Peter Heintel und Dominique Schnapper mit dem Modell Europa. Die Wirkung Europas geht ihrer Meinung nach von den Ideen der Wissenschaft und Demokratie aus.

 

Peter Heintel betont die ethische Motivation der abendländischen Rationalität. Gegen die Fehlentwicklungen eindimensionalen Verstandesdenkens wie Eurozentrismus und Vorherrschaft von Wissenschaft und Technik setzt er die Selbstdifferenz der Vernunft. Um den neuen „Sachzwängen“ der Expertokratie zu entkommen, bedarf es einer organisierten permanenten Reflexion. Ansätze dazu sieht Heintel in den Nicht-Regierungs-Organisationen. Jedoch wehrt er sich gegen eine (moralische) Bevormundung der Wissenschaft. Die Systeme sind zu komplex geworden, als dass Kritik von außen ohne innere Akzeptanz wirken könne. Der Widerspruch muss daher in die Wissenschaft hineingenommen werden. 

 

Auch die Demokratie muss ihren Widerspruch in sich selbst hineinnehmen. Dass Multikulturalismus fester Bestandteil jeder demokratischen Nation ist, betont daher Dominique Schnapper. Die Trennung von öffentlich und privat ermöglicht dem modernen Staat das Transzendieren historischer, religiöser oder sozialer Besonderheiten. 

 

 

 

Gerade solche Gedanken sind mittlerweile jedoch soweit über ihre territoriale Herkunft hinaus präsent, dass Europa nurmehr geschichtlich als Modell dienen kann. Als Identität verstanden dient es eher der Abgrenzung.

 

 

------------------------------------------------------------------------

 

Konrad Paul Liessmann, Gerhard Weinberger (Hg.): „Perspektive Europa. Modelle für das 21. Jahrhundert“. Sonderzahl 1999, 153 S., 34,- DM