9. September 2003

Büchergilde Gide

 

Seit sich Romane, Theaterstücke etc. mittels interner Spiegel selbst kommentieren, darf man sich fragen, warum sie das tun. Jedenfalls verhindert diese nicht selten als intellektualistisch geltende Technik nicht, dass Autoren mit Nobelpreisen gesegnet werden, zum Beispiel Luigi Pirandello und André Gide. Bei Letzterem hat man sogar Mühe, Werke ausfindig zu machen, die sich nicht dieser Intarsientechnik, die sich über Ähnlichkeitsbeziehungen definiert (mise en abyme), bedienen. Zwar muss ehrlicherweise gesagt werden, dass Gide den Nobelpreis für Literatur für sein umfangreiches Tagebuch bekommen hat, aber darin finden sich immerhin ziemlich wichtige Hinweise zur gegenseitigen Konstruktion des Schreibenden und des Geschriebenen, die für eine solche Literatur kennzeichnend ist.

Und damit ist auch schon eine erste Antwort gegeben auf die anfangs gestellte Frage. Ein literarisches Werk wird durch Selbst-Reflexion nicht notwendigerweise besser, aber es kann dadurch sehr an Unterhaltungswert gewinnen, vor allem dann, wie bei Gides "Paludes", wenn es sich mittels dieser Technik auch noch gleich selbst durch den Kakao zieht. Als Leser bekommt man also so etwas wie ein Buch im Buch, ein Stück im Stück präsentiert, und aus diesen Einlagerungen und Versenkungen lassen sich eventuell Rückschlüsse darüber ziehen, wie der Autor, der Erzähler oder wer auch immer das Rahmenwerk verstanden wissen will, was einschließt, dass ihm vor lauter Spielerei der Sinn abhanden kommt, die Bedeutung des Ganzen, was er damit schließlich hat sagen wollen.

Vermutlich die schönste Stelle einer Selbstkommentierung in André Kubiczeks zweitem Roman zelebriert ausgerechnet die Romanfigur, bei der man sich 176 Seiten lang fragt, wie sie sich in das doch ziemlich coole und finstere Personal, das der Autor dem Leser wie bei einem Theaterstück vor Beginn des ersten Akts vorstellt, integrieren wird. Bis dahin ist der Leser hektisch zwischen Ost- und Westberlin hin und her geschickt worden, hat er fatalistische Kolumnisten gehypter Wochenzeitungen, rassistische Gattinnen von Dozenten des afrikawissenschaftlichen Instituts der Humboldt-Universität, sich prostituierende Redakteurinnen trashiger Fernsehmagazine, frühgerentnerte und zugleich schwarzarbeitende Privatdetektive mit dubiosen Aufträgen kennen gelernt, um sich (man ist wieder beim Leser) mit abnehmender Intensität zu fragen, wo denn das alles enden soll, wie das alles zusammengeführt wird, denn wer bis auf Seite 176 immer noch dem fragwürdigen Spannungsbogen eines bis dato doch schon längst dekonstruierten Plots zu folgen meint, muss sich in der Tat in dem genialischen Kapitel "Testament eines Ziervogels" von dem eine Doppelrolle einnehmenden Lord Nelson, einem 5-jährigen Wellensittich, damit bekannt machen lassen, was hier, also in diesem Buch, so eigentlich abgeht.

Natürlich ist ein Wellensittich kein Detektiv (die Rolle ist ja schon besetzt), aber doch ein Detektor, dem man auch nicht alles glauben darf, was er gleich am Anfang seines Auftritts bekennt (das Medium ist die Botschaft und solche Scherze, auch wenn man auf einer anderen Ebene durchaus wiederum darüber lachen kann und es also Ernst zu nehmen hat). Dieses 20-seitige Testament gehört mit zum Rührendsten und Deprimierendsten, was ich in der letzten Zeit gelesen habe. Das Erlebnis Lord Nelsons gehört zum Signifikantesten des Romans und unterhöhlt zugleich die ins Spiel gebrachte und von ihm illusionsloserweise für richtig befundene These, dass Erlebnisse Bedeutungen ersetzt haben. Und so lehrt uns ein Wellensittich eine doppelte Lektüre. Dieser Roman wird kein (gutes) Ende haben, denn er ist in jedem Kapitel ganz bei sich, in jedem Abschnitt, jeder Satz ist seine eigene Finalität, sein eigenes Ende, hier wird stilistisch brilliert, werden katastrophale Vergleiche zum witzigen bis zynischen Vergleich der größeren katastrophalen Geschichte (dieses Buchs und darüber hinaus u.a. einer geschmackskranken Mittelstandsrepräsentation). Dieser Roman ist sehr postmodern, und zugleich ist alles wahr, was hier steht. Geschrieben ist das allerdings auf allerhöchstem Trash-Niveau, falls es so was geben sollte. Kubiczek hat in allen Nischen nachgeschaut, und dies ist sein finsterer Kommentar.

Natürlich nicht zu verwechseln mit dem Vorhaben seines frivolen alter ego Raymond Schindler, dem schwarzarbeitenden Detektiv, der sich für Folgendes entscheiden würde oder entschieden hätte: "Ich notierte für Nadine [das ist seine Cousine, für die er ein Buch schreiben soll], dass die vordergründige Handlung von einer zweiten durchkreuzt werden müsse in Klammern setzte ich dritte, vierte, fünfte usf. Ich lieferte auch gleich ein paar Themenbereiche für solche Nebenhandlungen mit: Mythologisches (blutrünstig bis gleichnishaft), Geschichtliches (blutrünstig bis gedenkenfördernd), Kriminalistisches (sehr blutrünstig, neue Umbringmethoden ersinnen!), und vor allem Sexuelles und dabei vor allem: abnorm Sexuelles. Der Effekt, den ich mir davon erhoffte, war nicht mehr und nicht weniger als eine Verwirrung des Lesers. Mehr wird hier nicht verraten, wenn es denn Verrat ist.

 

Dieter Wenk

 

André Kubiczek, Die Guten und die Bösen. Roman, Berlin 2003 (Rowohlt), 320 Seiten