25. September 2003

Der schöne Schein

 

Die philosophische Ästhetik im Kreuzfeuer

 

Zum Auftakt künstlerischer Großereignisse, wie beispielsweise der Dokumenta, regt sich im deutschen Blätterwald gern ein gewisser Unmut bezüglich der Theorielastigkeit der Kunst. Die sinnliche Wahrnehmung würde zugunsten eines konzeptionellen Verstehens aufgegeben. Schaut man allerdings in die Auslagen der Museumsbuchhandlungen, fällt einem das reichhaltige Sortiment an ästhetischen Theorien ins Auge. Der Bedarf an ästhetischen Schriften scheint also nach wie vor zu bestehen, und zwar genau bei dem Publikum, das sich auch für Kunst interessiert. Dass sich Kunsttheorie und Ästhetik nicht vollständig decken, ist seit Barmgarten und Kant durchgängiger Tenor. Doch muss in der Moderne von einer zunehmenden Entfremdung der beiden Diskurse ausgegangen werden. Künstlerische Konzeptionen haben immer weniger mit rein ästhetisch-philosophischen Gesichtpunkten gemein.

 

 

 

Mitunter lässt sich diese Entwicklung auf die vertrackte Stellung der Ästhetik innerhalb der Philosophie zurückführen. Dabei ist es fraglich, ob sich die philosophisch verstandene Ästhetik in eine Sackgasse manövriert hat oder ob es nur einer erneuten Aktualisierung beziehungsweise Vermittlung bedürfte. Der andauernde Versuch zumindest, die Ästhetik als philosophische Disziplin zu rechtfertigen, ist dabei ein ausgewiesen deutsches Phänomen. In dem Suhrkamp-Band "Falsche Gegensätze" wurden Beiträge einer Tagung, die 1999 an der FU Berlin gehalten wurde, versammelt, die sich mit der Verortung der philosophischen Ästhetik beschäftigen. In ihrer Einleitung stellen die Herausgeberinnen Andrea Kern und Ruth Sonderegger den Grundgedanken des Projekts vor, der darin besteht, die Autonomie der ästhetischen Erfahrung gerade nicht aus einer abgeschlossenen Sonderstellung, sondern aus ihrem Bezogensein auf alltägliche Erfahrung und - durch ihre reflexive Haltung - auf Philosophie zu bestimmen. Ästhetik, so gesehen, ist weder die einzig wahre Philosophie, noch eine marginale Disziplin innerhalb der Philosophie, die durch ihre Abgrenzung zur wissenschaftlichen Erkenntnis und Moral dazu verdammt wäre, ausschließlich der Zerstreuung zu dienen. Im Gegenteil, gerade die besondere Art und Weise, wie die ästhetische Erfahrung auf die gewöhnliche, alltägliche Erfahrung bezogen ist, nämlich spielerisch, reflexiv oder aporetisch, macht sie zu einer autonomen. Falsche Frontstellungen sollen einem fruchtbaren Miteinander weichen. "Theoretische und praktische Philosophie und philosophische Ästhetik sind nur im wechselseitigen Bezug aufeinander sinnvoll. Denn die ästhetische Erfahrung besitzt selbst eine philosophische Dimension, ohne auf Philosophie reduzierbar zu sein".

 

 

 

Der Band ist in drei Kapitel unterteilt: Im ersten Kapitel geht es um das Verhältnis der Ästhetik zur Philosophie, darauf folgen Artikel über die Beziehung der Ästhetik zur Wahrheit und schließlich zum ethischen Leben. So einig sich die Autoren auch darüber sind, dass die falsche Alternative zwischen Ästhetik als Königsdisziplin und Ästhetik als zu vernachlässigender Anhang der Philosophie überwunden werden muss, so verschieden sind doch die Ausgangspunkte und Argumentationen. Am auffälligsten sticht Jens Kuhlenkampffs Beitrag hervor, da er mit seiner Kritik zugleich das ganze Unternehmen in Frage stellt. Seiner Meinung nach ist das Projekt einer philosophischen Ästhetik, wie sie systematisch von Kant oder Hegel entworfen wurde, nur unter der Voraussetzung einer metaphysischen Erkenntnistheorie und Moralphilosophie durchführbar. Teilt man die starke Voraussetzung des "Übersinnlichen", und damit das verkappte Theologumenon als Aufhänger für das Schöne nicht, so wäre das Schöne "nur Gegenstand eines belanglosen Spiels der Erkenntniskräfte und einer philosophischen Betrachtung nicht würdig". Die durch das Naturschöne belegte Zweckmäßigkeit kann nach Kulenkampff nicht vom Menschen, sondern allein von Gott garantiert werden. Die säkularisierten Adaptionen der großen philosophischen Systeme verfehlen diesen Zusammenhang. Auch sieht Kulenkampff in der philosophischen Ästhetik für die Kunsttheorie keinen wirklichen Gewinn. Die moderne Kunst besitzt oft gar kein "reiches Formmaterial, das verlangte und doch zugleich verweigerte, unter einen passenden Begriff subsumiert zu werden", wie Kant das freie Spiel der Erkenntnisvermögen beschrieb. Sowohl Kant als auch Hegel sind deshalb für eine gegenwärtige philosophische Ästhetik obsolet geworden. "Mag auch das Firmenschild ,Philosophische Ästhetik' weiter existieren, aber eigentlich so zu nennende philosophische Ästhetik gibt es nicht mehr." Mit dieser Position steht Kulenkampff in diesem Sammel-Band freilich allein auf weiter Flur.

 

 

 

Für Christoph Menke ist die Ästhetik demgegenüber immer noch ein wichtiger Teil der Philosophie. Nicht aber als Wissenschaft verstanden, sondern als Korrektiv der Erkenntnistheorie, "weil die Erfahrung des Schönen uns in privilegierter Weise eine philosophische Einsicht in das Wesen unseres Erkennens erlaubt". Im Vollzug eines ästhetischen Aktes werden wir der Kräfte gewahr, die in ihnen wirken. Es ist diese selbstreflexive Verfassung der Ästhetik, die der philosophischen Reflexion nahe kommt, ohne jedoch selbst eine Erkenntnis zu sein, denn die Kräfte, die dabei wirken, sind nicht objektivierbar, sie lassen sich fühlen, nicht aber erkennen.

 

 

 

Eine ähnliche Argumentation vertritt Andrea Kern in ihrem Text. Ihr Augenmerk richtet sie aber darüber hinaus auf die lebensweltliche Bedeutung der Ästhetik. Sowohl das ästhetische Urteil über das Schöne als auch die philosophische Aussage stützen sich auf einen Gemeinsinn, die ästhetische Erfahrung vermittelt uns jedoch zusätzlich eine "Gewissheit, dass wir in die Welt passen", die die Philosophie niemals einholen kann. Ihrer Meinung nach liegt die Pointe von Kants Theorie des Schönen genau darin, dass wir in dem Zufälligen der ästhetischen Wahrnehmung etwas erfahren, was aus der Perspektive der philosophischen Reflexion niemals Inhalt einer konkreten Erfahrung sein kann, sondern schlechterdings als unerfahrbar gilt. Die von Kulenkampff bezweifelte Zweckmäßigkeit des ästhetischen Gegenstandes bedarf ihrer Meinung nach also gar keiner theologischen Absicherung, da sie sich wissenschaftlicher Erkenntnis eo ipso entzieht.

 

 

 

Auch Birgit Recki hebt die Relevanz der Kunst für das Leben hervor. Die Kunst vermag "in ihrer Geformtheit auch ein Vorbild für die Gestaltung unseres Lebens im ganzen" zu sein. Durch sie eröffnen sich neue Dimensionen der Freiheit. Der gängigen Kritik am scheinbar unmoralischen Ästhetizismus kontert sie geschickt anhand einer kurzen Nietzsche-Interpretation. Nietzsches Individualismus gründet hiernach im Medium der Kultur. "Im Schaffen einer Kultur, in der es sich aushalten lässt, liegt für Nietzsche das höchste Ziel aller ästhetischen Produktivität und damit aller individuellen Anstrengung." Dass Nietzsche daraus keine eigene Ethik entwickelt hat, liegt Recki zufolge nicht an seiner ästhetizistischen Einstellung, sondern schlicht an mangelnder Reflexion. "Das Problem des Ästhetizismus als der willkürlichen Behauptung einer ästhetischen Monokultur liegt in jener Ungenauigkeit der Wahrnehmung und des Denkens, die vergessen lässt, wie das Ästhetische, um sein zu können, was es ist, gerade die markante Grenze anderer Weisen des Selbstverständnisses und Weltverhältnisses voraussetzt. Dem Ästhetizisten geht es um das Ästhetische. Gewaltfantasien sind keine Folge des Ästhetizismus, sondern eine Entgleisung des Denkens."

 

 

 

Am Ende des Bandes kommt Martin Seel zu Wort. In seinem Beitrag plädiert er mit ausgesprochenem Pathos für eine Sensibilität bezüglich ästhetischer Erscheinungen. "Was also verloren ginge, wenn der ästhetische Sinn verkümmern würde, wäre eine private und öffentliche Empfindlichkeit und Empfänglichkeit dafür, was im geschichtlichen Leben hier und jetzt, inmitten aller historischen und biographischen, sozialen und gesellschaftlichen Vermittlung, unmittelbar zu berühren und zu bewegen, die Phantasie und die Reflexion zu erregen vermag." Bei solch bekenntnishaftem Engagement glaubt man gern, dass die philosophische Ästhetik uns noch etwas zu sagen hat. Der hier vorliegende Sammelband ist dazu insbesondere mit den konkreten Analysen, wie sie beispielsweise von Albrecht Wellmer zur Musik oder Martha Nussbaum zur Literatur geleistet wurden, ein wichtiger Beitrag.

 

Gustav Mechlenburg

 

Andrea Kern / Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.

344 Seiten, 13,00 EUR.