13. Oktober 2003

Progromtouristen

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Australien als Ländchen zu bezeichnen, klingt zunächst reichlich untertrieben. Die politische Unbekümmertheit des Kontinents „mitten im Nichts und am Rande von allem“, wie sie Linda Jaivin beschreibt, rechtfertigt jedoch die Verkleinerungsform nur zu gut. In den Künstlerkreisen um den Protagonisten Miles Walker in ihrem neuen Roman wird es darüber hinaus auch „Ausstrahlien“ genannt. Was das Geltungsbedürnis der Kunstschaffenden widerspiegelt, über das Land hinaus zu strahlen.

 

Gehört das scheinbar traditionslose, größtenteils von Einwanderern besiedelte Land zu Europa, Südamerika oder Asien? Nicht enden wollende Fragen zur kulturellen Identität, die von einer neuen Partei endgültig zu den Akten gelegt werden soll. Unter dem Namen „Der reine Tisch“ tritt sie an, mit der Kultur ein für allemal aufzuräumen. „Möchten Sie wirklich Kultur im Leben haben?“, heißt der rhetorische Wahlspruch des Werbespots, in dem Kunst als weltfremd oder gar als sozial unverträglich dargestellt wird.

 

Nicht ganz abwägig, schaut man sich die Wohngemeinschaft Walkers an: exzentrische, durchgeknallte Gestalten á la Beuys oder Schlingensief. Sie trifft der politische Umbruch (nicht ganz ohne eigene Schuld, hatten sie doch, wenn auch aus Spaß oder Event, selbst ihre Stimme den Kulturpessimisten gegeben) wie ein Schlag ins Gesicht. Walker selbst, erst gerade der Kunstakademie entsprungen, hatte vor, seinem Größenwahn, als bester Maler aller Zeiten Anerkennung zu erlangen, nachzugehen. Doch an Ausstellungen ist nicht zu denken. Die Kultursitten-Polizei wird eingeführt, die neben Konzertsälen, Galerien und Theatern noch nicht einmal vor Stäbchen-Restaurants halt macht. Kultur eben im umassenden Sinne - Esskultur nicht ausgeschlossen. Der aufkommende Rassismus richtet sich denn auch nicht direkt gegen bestimmte Ethnien, sondern gegen jegliche Art kultureller Eigenheit. Multikulturalismus wird zum Hassbegriff und die Aborigenies als kulturstiftende Urbevölkerung werden zum Dorn im Auge der Herrschenden.

 

In dieser Zeit der Regression blüht naturgemäß der Untergrund erst richtig auf. Mit geheimen Veranstaltungen und terroristischen Anschlägen wird der Einheitsterror unterwandert. Auch Künstler aus dem Ausland werden aktiv und kommen als Progromtouristen ins Ländchen.

 

Erst als eine Studie die wirtschaftlich und außenpolitisch katastrophalen Nachteile der Antikulturpolitik der Regierung vor Augen hält und die Premierministerin gewisse Kunststile wieder rehabilitieren will („Realistische Malstile sind okay. Also wenn man Äpfel malt, die auch wie Äpfel aussehen. Ich meine, realistisch malen ist etwas anderes, als wenn man Stofftieren die Köpfe abhackt oder Leute beim Frühstücken auf Video aufnimmt oder Bindfadenknäuel auf dem Fußboden aufhäuft oder, was weiß ich, Uuhrien in Flaschen abfüllt“), entstehen die wahren Probleme für Walker und seine Freunde. Konnte das bisher gemeinsame Feindbild die verschiedenen Kunstverständnisse noch wunderbar zusammenschmelzen, geht es nun um im Kunstmilieu so übliche moralische Themen wie Ausverkauf und Kollaboration. Miles Walkers anti-avantgardistischer Malstil in Öl macht ihn sogleich zum Verräter und treibt ihn in die Arme der Machthaber. 

 

Wie ein Film (besser gesagt wie in Fight Club) wird der Plot vom Ende her aufgezogen, ohne vor dem shoot down erahnen zu lassen, wie es dazu kam. Neben den unvergleichlich legeren Anspielungen auf kenntnisreiches Kunstverständnis und der unverwechselbar witzigen Charakterporträts ist es die thrillergleiche Spannung, die das Buch ausgesprochen kurzweilig macht. Linda Jaivin hat es geschafft, anhand einer überzogenen Parabel, selbstgefälligen Zeitgeist mit ernsten kulturpolitischen Themen ironisch zu verbinden. Ihr Buch wäre unter dem „reinen Tisch“ gewiss verboten.

 

 

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Linda Jaivin: "Miles Walker, du bist tot", Hoffmann und Campe 2001