13. Oktober 2003

Die Hoffnung stirbt zuletzt

 

Zu Volker Brauns Prosasammlung "Wie es gekommen ist"

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Wer mit solch einer ironischen Skepsis an die Wirklichkeit herantritt wie Volker Braun, dessen Werk ist quasi empirieresistent. Die Anekdoten, die der Autor in den letzten 40 Jahren geschrieben hat, sind so zeitlos wie hellseherisch. Brauns grotesker Humor oder seine resignative Bitterkeit eingebunden in komplizierte Satzgebilde sperren sich gegen jede Art politisch-ideologischer Vereinnahmung. Das war es, was Literatur im besten Sinne leisten konnte in der DDR. Und das ist es, wofür der 1939 in Dresden geborene, in Berlin lebende Schriftsteller 2000 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde.

 

Der Titel des Buchs, in dem der Suhrkamp Verlag Prosastücke von Volker Braun aus den letzten 40 Jahren zusammengestellt hat (und dabei leider versäumt hat, die jeweiligen Entstehungsdaten der Stücke anzugeben), ist von der Parabel "Wie es gekommen ist" übernommen, die Braun im Frühjahr 1989 geschrieben hat. Zu diesem Zeitpunkt war die kommende Wende noch nicht absehbar. Und doch lassen sich die unheimlichen kafkaesken Sätze heute rückwirkend auch auf den Umbruch beziehen. "Es war nichts Besonderes, es war nur die Stimmung im Lande (die man hätte kennen können). Man wusste ja: es denkt in den Leuten; man hatte es nicht ernst genommen. Nun war es so weit, es meldete sich zu Wort in den Versammlungen, und man musste eine Antwort geben."

 

Ein Autor, der so hellsichtig schreibt, wird verständlicherweise keine Revision seiner Gedanken für nötig halten, selbst wenn die Geschichte weitergeht. Das liegt auch daran, dass Braun von der sozialistischen Utopie niemals Abstand genommen hat. Seine Kritik am Funktionärswesen und an der falschen sozialistischen Propaganda endet weder in einem Fatalismus noch in der Aufgabe der Idee. Denn letztlich ist es bei Braun immer das politische Individuum, der einzelne Mensch, der die Verantwortung trägt für das Misslingen der Utopie.

 

Selbst in der desillusionierenden Parabel "Die vier Werkzeugmacher" aus dem Jahr 1996 gibt Braun die Hoffnung auf Selbstverantwortlichkeit nicht auf. In der Geschichte werden vier Werkzeugmacher nach der Wende "abgewickelt wie eine Spule". Im grimmig humorigen Anekdoten-Stil heißt es dort: "So entwickelte die Geschichte ihren Humor, indem sie einfach weiterging." Was im Klartext heißt, dass die Handwerker nicht nur ihren Job verlieren, sondern als Vereinzelte der Neuerung begegnen müssen: "Was Arbeit oder nicht, sie waren endlich Menschen. Abend für Abend süchtig vor dem Fernsehgerät, das ein infames Gedächtnis hatte und alles Elend endlich vor Augen stellte, das er hatte erleben müssen. Er hatte es nicht so erlebt; nun sah er, wer er gewesen war. Das stimmte mit der Erfahrung überein, die er eben gemacht hatte, als er ausgetauscht wurde, er musste auch seine Erinnerung wechseln wie ein Straßenschild." Doch Braun steigert sich niemals in leidige Larmoyanz. Auch am Ende dieser Parabel distanziert er sich von der Vorstellung eines Automatismus: "Denn die Geschichte hat keine Absicht, und was die vielen begrifft, müssen sie ihre äußern."

 

In dieser Schwebe, zwischen barscher Kritik, grotesker Ironie und politischer Ernsthaftigkeit, liegt das Besondere von Brauns Prosastücken. Wie kunstvoll die unterschiedlichen Stile und Themen zusammenpassen, zeigt der Autor in jedem Satz: "Wenn die kleine DDR wenigstens den Katalysator, die Rauchentschwefelung und die Fußgängerzone erfunden hätte, sie hätte glänzen können wie das ewige Zündholz, das zwar keinen Profit bringt, aber das es doch gibt. Dass wir keine Alternative lebten - das ist die eigentliche Scham - allerdings kannten wir auch nicht den irren Verkehr."

Volker Braun: Wie es gekommen ist. Ausgewählte Prosa.

Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2002.

174 Seiten, 18,00 EUR.

ISBN 3518413090