13. Oktober 2003

Die Sprache der Kunst

 

Zu Gernot Böhmes ästhetischer Theorie

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Philosophie ist für Gernot Böhme niemals akademisch-abgehobener Selbstzweck gewesen, vielmehr muss sie seiner Meinung nach immer auf den konkreten Menschen in seiner jeweiligen Umwelt reflektieren. In dem mit Harmut Böhme zusammen verfassten Buch "Das Andere der Vernunft" geht es denn auch um die in Kants Philosophie vernachlässigte Leiblichkeit des Menschen. Genauso unterstreichen Böhmes neuere Schriften, die sich vorwiegend mit ästhetischen Themen befassen, stets die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung für unser Denken und Handeln.

 

Zur Ästhetik führte ihn sein Weg vor allem über die Beschäftigung mit den ökologischen Katastrophen, die dem Menschen ein neues Bewusstsein seiner Umwelt gegenüber abverlangen. Neben der Vermittlung moderner Kunst hat Ästhetik demnach vor allem die Aufgabe, das neue Verhältnis zu der zunehmend vom Menschen gestalteten Natur, aber auch zu der durch Design und Inszenierung durchwirkten Welt, zu beschreiben. Nur wenn die "Ästhetisierung des Realen" begrifflich adäquat eingeholt werden kann, ist eine kritische Haltung ihr gegenüber möglich.

 

Wie bereits in seinem Buch "Atmosphären" versucht Böhme erneut, Ästhetik als eine allgemeine Wahrnehmungslehre zu begründen. Der Titel des Werks "Aisthetik" stammt vom griechischen Wort Aisthesis (Wahrnehmung) und drückt die weitreichende Dimension des Unternehmens aus. Das Kunstwort ist unter anderem von Wolfgang Welsch verwendet worden, gegen den sich Böhme in seinem neuen Buch allerdings nicht mehr explizit abgrenzt. Sein neuer Gegner heißt Martin Seel, der in der Abhandlung "Ästhetik des Erscheinens" Böhmes eigenem Ansatz thematisch wohl allzu nahe gekommen ist.

 

Für Seel bedeutet Ästhetik eine Wahrnehmung um der Wahrnehmung willen, also ein Erscheinen, das als solches "auffällig" wird. Zur Kunst wird seiner Meinung nach atmosphärisches Erscheinen erst dadurch, dass es dargeboten wird. Darin liegt nach Böhme eine Verengung des ästhetischen Blicks. "Für die Ästhetik ist nicht eine besondere Wahrnehmungsweise, der so genannte ästhetische Blick, konstitutiv, der etwa aus der alltäglichen Dingwahrnehmung durch Abstraktion, Rahmung, Verhaltung und Zweckfreiheit oder sonstige Disziplinierung gewonnen würde, sondern umgekehrt: Grundlegend für die Ästhetik ist das Spüren von Atmosphären, und von diesem ist durch einen langen Weg von Differenzierung, Spezifizierung und Disziplinierung die alltägliche Wahrnehmung von Dingen abgeleitet." Im Ganzen gesehen wirkt diese Frontstellung zwischen Böhme und Seel aber eher bemüht, kommen doch beide über weite Strecken hinweg zu recht ähnlichen Ergebnissen.

 

Anhand mehrerer Beispiele versucht Böhme zu zeigen, inwieweit der Dingwahrnehmung eine unbestimmte Erfahrung einer Erregung vorausgeht. Wenn wir etwa das Gefühl haben, dass jemand in einen Raum kommt, ist diese Stimmung noch nicht nach Sinnen ausdifferenziert. "Unbestimmt und ohne Grenzen in die Weite ergossen, ziehe ich mich durch das Spüren, dass da jemand kommt, quasi auf mich zusammen beziehungsweise zerlege den Raum dadurch, dass jetzt meine Aufmerksamkeit geweckt wird, in Richtungen und Sinndimensionen." Das Wahrnehmungsereignis liegt demnach vor jeder Subjekt-Objekt-Spaltung. Genau diese Relation, die weder Zustand des Subjekts noch Eigenschaft des Objekts ist, nennt Böhme Atmosphäre.

 

Im Gegensatz zur Tradition, die den ästhetischen Schein weitgehend verstand als Erscheinen von etwas, sind nach Böhme Atmosphären die erste und entscheidende Wirklichkeit für die Ästhetik. Der Ästhetik muss es darum gehen, die Erscheinungen als solche zu bestimmen, ohne sie auf etwas, das erscheint, zu überschreiten. "Die Produktion von Atmosphären ist eine wichtige, geradezu definitorische Intention für ästhetische Arbeit. Wahrnehmungserfahrung soll vermittelt und letzten Endes affektive Betroffenheit erzeugt werden." Aus diesem Grund gesteht Böhme der Rhetorik wieder eine herausragende Stellung innerhalb der Kunstproduktion zu.

 

Wenn in den einzelnen Kapiteln, zumeist mit Blick auf das Theater als Musterbeispiel für institutionelle Isolation der (ästhetischen) Wirklichkeit von der Realität, mitunter eher überholte Begriffe wie Atmosphäre, Szene, Charakter, Physiognomie, Ekstase oder Erzeugende analysiert werden, so sollen diese dazu dienen, dem Unsagbaren eine Sprache zu verleihen. "Allgemeinste Funktion der Ästhetik ist die Erweiterung der Sprachfähigkeit. Die neue Ästhetik ist bemüht, die ästhetische Wirklichkeit von Irrationalismus zu befreien, das heißt wörtlich: sie sprachfähig zu machen." Es gelingt Böhme durch ein Vokabular, das sich auf die Erscheinungen selbst bezieht, die Ästhetik aus der Verengung auf Semiotik und Hermeneutik, also einer Suche nach einer Bedeutung hinter den Werken, zu befreien und dennoch nicht einem heideggerianischen Kitsch zu verfallen.

 

Allerdings ist eine gewisse Ratlosigkeit nach der Lektüre nicht zu leugnen. So plausibel die Beispiele und Analysen einen auch in den Bann ziehen mögen, letztlich bleibt offen, inwiefern uns das von Böhme zur Verfügung gestellte Vokabular tatsächlich mehr sagen lässt als die traditionelle Ästhetik. Hier wäre eine intensivere Auseinandersetzung mit Kants "Kritik der Urteilskraft", die Böhme an anderer Stelle nicht scheut, angemessen gewesen. Auch verlangen seine spannenden Andeutungen zur gesellschaftlich-politischen Relevanz ästhetischer Theorie nach weiterer Ausführung.

 

Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre.

Wilhelm Fink Verlag, München 2001.

200 Seiten, 24,50 EUR.

ISBN 3770536002