18. September 2003

Punk in Ostberlin

André Kubiczek, Junge Talente. Roman, Rowohlt Berlin 2002, 223 Seiten

Romantischer Nachschlag aus den Texten, die man gelesen hat, ein bisschen Mignon, ein bisschen Lucinde.

 

Sie heißen Delia, Radost, Irene (Irenchen) und Dani. Die jungen Talente sind aber alle Männer. Denn nur Männer besitzen dieses bündische Etwas, das sie ihrer pflichtgetreuen Schwermut enthebt, die sie singularisiert und auszeichnet. Less ist einer von ihnen. Er wächst in der Provinz auf, im Harz, es ist 1985, vier Jahre vor dem Fall der Mauer. Während Delia viele Verwandte im Westen hat, das ihr aber überhaupt nichts nützt, findet Less in einer modischen Laune seinen eigenen Stil, einen zwei Nummern zu großen Anzug und eine punkige Frisur im monochromen Stil. Less kann gut reden, das sichert ihm 10 Minuten Aufmerksamkeit auf dem Schulhof, danach fällt er wieder in die Bedeutungslosigkeit zurück und labt sich an Rimbaud und Carl Einstein. Radost ist dann die erste dieser merkwürdig entrückten Mädchen- und Frauenfiguren. Sie ist die Cousine von Less, besucht ihn in der Provinz und lädt ihn nach Berlin ein, wo sie mit ihrem Vater wohnt. Less schnuppert eine andere Welt, ihr gegenüber ist er klein, es fällt ihm auch nichts mehr zum Reden ein, man könnte es auch Verliebtheit nennen. Später, nach Abschluss der Schule, fährt er nach Berlin, aber Radost ist nicht mehr da, Less muss mit ihrem Onkel Vorlieb nehmen, über den Less die Talente vorgestellt bekommt. Ganz interessante Szene, Leute, die Gedichte vorlesen, denen das Regime egal ist, nicht aber umgekehrt, aber letztlich geht es auch hier mal wieder nur um Frauen, wer der erste war, wer besitzen darf, wer eins in die Fresse kriegen muss. Irene ist erst 16, aber schon so aufregend, dass sich gleich mehrere Talente für sie interessieren. Romantischer Nachschlag aus den Texten, die man gelesen hat, ein bisschen Mignon, ein bisschen Lucinde, ein Mädchen, das Noten verteilt und plötzliche Entscheidungen danach ausrichtet. Natürlich verschwindet auch Irenchen. Immerhin wohnt Less in ihrer Wohnung. Er lernt das Punk-Milieu ein wenig kennen, Beck, der später zum Militär muss, und Dani, einerseits so tough, andererseits so verständnisvoll, und warum mögen diese Frauen ihn überhaupt so. Less bleibt länger als geplant. Aber war überhaupt etwas geplant? Und was macht Less außer Postbote spielen, saufen und wie ein Minnesänger zu den Frauen aufschauen? Er gehört doch bestimmt auch zu den Talenten. Er mag Literatur, aber schreibt er auch? Jedenfalls tritt er Männern gegenüber selbstbewusst auf, hat keinen falschen Respekt vor selbst ernannten Dichtern, sondern mag authentische Verzweiflung (Beck). Die steckte auch schon diffus in Irenchen, die inzwischen in München ist. Dann kommen auch mal ein paar Auftritte des Staats, Polizeidurchsuchungen, Festnahmen, nächtliche Kontrollen, aber für den westlichen Blick hat das was fast Ephemeres, auf jeden Fall Integriertes. Weniger paranoid als beiläufig, also auf keinen Fall das, was Milosz (keine Romanfigur) als „Ketman“ bezeichnet hat, den Zwang zur permanenten Maske, hinter der sich das eigentliche Gesicht vollständig verliert. Am Ende geht es wieder zurück in die Provinz, aber vielleicht nur vorläufig, München ruft…