17. April 2006

Befehl ist Befehl

 

Manche Spielarten der Literatur haben ihre Zeit, nach deren Ablauf ein Etikett genügt, um darauf hinzuweisen, dass es sie gegeben hat. Ionescos Theater scheint solch ein Fall zu sein. Man mag es nicht mehr anrühren, man erträgt es nicht mehr. Das Absurde ist kein Kandidat mehr für das große Ganze, und man stellt fest, dass es eine viel größere Wirkung entfaltet, wenn es eingestreut ist in den Gang des ganz normalen Lebens. Dann entdeckt man auch, dass das 20. Jahrhundert das Absurde nicht erfunden hat. Es hat es bloß vulgarisiert. In „Laurette oder Das rote Siegel“ erzählt Alfred de Vigny die haarsträubende Geschichte eines alten Soldaten, der nichts anderes getan hat, als was ein Soldat normalerweise tut, nämlich Befehle ausführen. In der Zeit des „Direktorats“ in Frankreich unternimmt dieser Soldat als Kapitän eines Schiffs eine Reise von Frankreich nach den Staaten, und als besondere Fracht birgt das Schiff ein junges, verliebtes Ehepaar und einen versiegelten Brief, den nach Passieren des soundsovielten Breitengrades dem Kapitän aufgetragen wird zu öffnen. Dem Kapitän gefällt das junge Paar, er wird sogar anhänglich und fragt die beiden, ob sie nicht Lust hätten, in Übersee gemeinsam mit ihm ein neues Leben anzufangen, er sei, im Gegensatz zu dem Paar, nicht ganz mittellos. Auf halber Strecke erbricht er wie vorgeschrieben das Siegel. Was er in dem Brief liest, kann er zunächst nicht fassen. Er bittet den jungen Mann um ein Gespräch unter vier Augen und fragt ihn nach seiner Geschichte. Dieser berichtet, wie es dazu kam, dass er mit seiner jungen Frau auf diesem Schiff landete. Als Journalist hatte er sich erlaubt, das fünfköpfige Direktorat in einer Publikation ein wenig mit Spott zu überziehen. Das mochten diese gar nicht. Sie verurteilten ihn zum sofortigen Tode, um kurze Zeit später die Modalität des Vollzugs zu ändern. In dem versiegelten Brief hieß es, dass der Kapitän den jungen Mann nach Öffnen des Briefes auf offener See zu erschießen habe. Was mag sich das Direktorat bei diesem Aufschub gedacht haben? Eine kleine Geste der Humanität, das Schäferstündchen mit der frischen Gattin noch etwas zu verlängern? Oder die Vertuschung der Bestrafung einer Tat, die es mit der noch ganz jungen Freiheit ganz ernst meinte? Der Kapitän jedenfalls sagt dem jungen Mann, dass er ihn leider erschießen müsse. Dass er ihn und die Gattin natürlich sehr sympathisch fände und dass ihm das alles fürchterlich peinlich sei, dass er sich als Soldat aber doch an die Spielregeln halten müsse. Der junge Mann fällt dem alten Recken nicht gerade um den Hals, als er sein Urteil erfährt, aber er hat doch tiefstes Verständnis für die Situation, die ja in der Tat keinen Spielraum lasse und die den Kapitän in eine äußerst bedauernswerte Lage gebracht habe. Die beiden Männer sind sich einig auch darin, dass sie es vorziehen, der jungen Frau nichts von dem unabwendbaren Missgeschick zu sagen. Als es so weit ist, lässt der Kapitän die Frau für die Zeit der Erschießung aufs offene Meer rudern, um ihr die schreckliche Szene zu ersparen. Der Befehl wird ausgeführt, die junge Frau wird sofort wahnsinnig. Gewissermaßen als Korollar haben die beiden Männer vorher noch beschlossen, dass sich der Kapitän der jungen Frau annimmt, falls das erforderlich sein solle. Da dieser Fall nun sogleich eingetreten ist, beschließt der Kapitän, die Waffengattung zu wechseln, da er sich als Infanterist viel besser um die Frau kümmern könne. Und so bastelt er einen Karren, den ein Esel zieht, als Wohnung für die junge Frau, die ihn auf alle Schlachtfelder begleitet. Einem jungen Soldaten erzählt der alte Mann diese Geschichte, und ganz unironisch sagt er, dass er eigentlich stolz darauf sein könne, die Selbstverleugnung in Ausübung jener Pflicht bis zum Äußersten getrieben zu haben. Der junge Mann kann dem nur zustimmen, sehr abgeklärt heißt es von diesem zum Schluss: „Auch ich habe Entsagung geübt.“ Glücklich, wer drüber stehen kann.<?xml:namespace prefix = o ns = "urn:schemas-microsoft-com:office:office" />

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Alfred de Vigny, Laurette oder Das rote Siegel, in: Französische Erzähler von Chateaubriand bis France, Leipzig 1951 (Dieterich)