16. April 2006

Was zu tun ist

 

Am Anfang dieser Erzählung findet sich ein interessanter Einschub. In den ersten beiden Sätzen werden zunächst drei Figuren und ein Ort sowie ein noch unbestimmter Zeitbezug ins Spiel gebracht, dann heißt es vom Erzähler: „Ich berichte die Dinge, wie sie sind, und überlasse es dem Leser, die moralischen Lehren aufzugreifen, wie die Tatsachen sie im weiteren Verlauf auf den Weg streuen.“ Dann geht es unvermittelt weiter in der Erzählung, die vom armen Arbeiter Claude Gueux (ein sprechender Nachname, zu deutsch etwa: Bettler) berichtet, wie er aus Geldmangel stiehlt, um seine Geliebte und das gemeinsame Kind zu ernähren, er dabei ertappt und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wird. Natürlich lesen wir keinen nackten Tatsachenbericht. Die Geschichte wird sorgfältig, wenn auch ziemlich platt, situiert, es gibt Sympathieträger und Bösewichte, und innerhalb dieses gestimmten Raumes fällt es dann allerdings leicht, die Streuung der „moralischen Lehren“ aus den Tatsachen mitzuverfolgen. Der Leser ist also von Anfang an auf der Seite des Arbeiters, der vom Gefängnisdirektor zwar nicht inkorrekt, aber doch inhuman behandelt wird. Der Arbeiter beschließt, selbst Gericht über den Direktor zu halten, ein letztes Ultimatum, das der Gefangene dem Direktor stellt, verstreicht, und da das private Gerichtsurteil den Tod des Peinigers beschlossen hat, wird es auch umgesetzt. Natürlich wird auch der Arbeiter erneut verurteilt, auch er muss sterben. Damit ist diese Geschichte aber noch nicht vorbei. Was folgt, ist ein Kommentar des Erzählers. Es ist, als ob er dem inhärenten Modell, das er zu Beginn postulierte, doch nicht ganz trauen würde. Als ob die Geschichte im engeren Sinn – das Schicksal des Arbeiters Claude Gueux – als bloße Geschichte verstanden werden könnte, man schlägt das Buch zu und fährt mit anderem fort. Der Kommentar macht unmissverständlich klar, dass es dem Erzähler nicht nur um das Einzelschicksal des armen Arbeiters geht, sondern um die Entwicklung einer universalen Haltung, die alle und jeden betreffe und die die Schaffung eines „Gleichgewichts“ zum Ziel habe. Nicht nur das sanktionierte, aber fragwürdige Gerichtsverfahren wird angeprangert, das die entscheidenden Fragen ausblendete, nämlich, warum Gueux stahl und mordete, warum es so viel leichte Mädchen gibt usw. Ein komplettes nationales Erziehungsprojekt wird eingefordert. Den tierischen Teil des (armen) Menschen veredeln, Bildungsmöglichkeiten für alle schaffen, gute Literatur – das heißt die Bibel, vor allem das Evangelium – in jede Hütte bringen, und, das alles zusammenfassend, eine Perspektive für die Zukunft bieten. Derjenige, der hier das „große Problem des Volkes“ angeht, ist nicht der Erzähler selbst, sondern eine fingierte anonyme Stimme, die repräsentativ für das Volk spricht. Der Leser merkt, es geht um alles, nicht nur um einen Fünfjahresplan. In seinem Pathos weiß der Sprecher vielleicht selbst nicht so genau, ob er selbst als Befreier des Volkes, als Aufklärer, oder als sympathischer Demagoge auftritt. Er schwankt zwischen Jesus und Voltaire, zwischen Jenseitshoffnung und Ansprüchen im Diesseits, zwischen gut gemeinter Verblendung und Integrationsprogrammatik. Engagierte Literatur, bei Hugo noch in romantischer Verbrämung, hat hier ihren Ausgang genommen. Der Weg für sie ist im Lauf der Zeit nicht einfacher geworden.<?xml:namespace prefix = o ns = "urn:schemas-microsoft-com:office:office" />

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Victor Hugo, Claude Gueux, in: Französische Erzähler von Chateaubriand bis France, Leipzig 1951 (Dieterich)