15. April 2006

Unter Wilden

 

Zum Schreiben kam er eher durch Zufall. Ein gut vierzigtägiger Hausarrest bot dem jungen Xavier de Maistre die Gelegenheit, aus der Not eine Tugend zu machen, und am Ende der Strafe konnte er von einer „Reise“ berichten, die er in seinem Zimmer unternommen hatte. Sein älterer Bruder, Joseph de Maistre, war ganz angetan von diesem Ausflug in die nächste Nähe, und der Text wurde gedruckt. „Die Gefangenen im Kaukasus“ sind eine erzählerisch entfaltete „Anekdote“, 1825, also etwa dreißig Jahre nach der „Reise“, geschrieben und dem heutigen Leser unter anderem mitteilend, dass der so genannte „Tschetschenien-Konflikt“ der Russen nicht von gestern stammt. De Maistre erzählt die Geschichte eines vorlauten russischen Majors, der durch eigene Unklugheit in die Hände der Tschetschenen fällt. Diese sind so schlau, ihn nicht zu töten, sondern ein hohes Lösegeld für seine Freigabe zu fordern. Zu dem russischen Offizier gesellt sich kurze Zeit später noch sein Diener, der, als er von der Gefangennahme seines Herrn hört, sich freiwillig in die Hände der Tschetschenen begibt. Lange Zeit passiert gar nichts, aber der Erzähler ist kein ethnologischer Feldforscher, der die Sitten und Bräuche des kaukasischen Stammes zeichnet. Sehr summarisch werden die Tschetschenen als „schöne, tapfere und gescheite, freilich räuberische und grausame Menschen“ vorgestellt. Die „Wilden“ sind einmal mehr das besprochene Volk, das sich vor allem indirekt durch Interventionen von außen artikuliert. Der Major wird streng bewacht, er ist in Ketten, sein Diener hat etwas mehr Freiheit. Der Major ist aber kein bloßer Abfall, der in der Ecke liegt, bis die andere, russische, Seite sich meldet, um eventuell in Lösegeldverhandlungen einzutreten. Immer wieder geschieht es, dass sich Tschetschenen bei ihm Rat holen oder ihn bei Zwistigkeiten als Richter einsetzen. Diesen seltsamen Gebrauch des Gefangenen kommentiert der Erzähler folgendermaßen: „Das dem Major entgegengebrachte eigenartige Vertrauen ist bezeichnend für die Meinung, die diese Völker von der europäischen Überlegenheit hegen, und zugleich für das angeborene Gerechtigkeitsgefühl, das sich bei den wildesten Menschen findet.“ Xavier de Maistre oder der Erzähler führen nicht aus, worin die europäische Überlegenheit bestehe, aber aus dem geschilderten Fall lässt sich doch eine signifikante Ungleichgewichtigkeit erkennen. Während die „Wilden“ ganz in den konfligierenden Positionen aufgehen, überschreitet der Major diese und bezieht sie auf eine Art Modell, von dem aus sich ganz verschiedene, aber doch gleich gelagerte Fälle miteinander vergleichen lassen, aus denen sich gleiche Schlüsse ergeben. Der Major ist also ein Distanzierer, ein Erzähler, aber auf abstraktem Gebiet. Er nimmt die Schwere, die Brisanz aus dem konkreten Streit. Und er schafft möglicherweise ein Bewusstsein für Zeitlichkeit, also auch ein Gewissen aus mobilisierter Speicherkraft. Für die Erzählung selbst bleibt diese Schilderung eine wenn auch erstaunliche Anekdote, die viel dringlichere Frage ist, ob den Gefangenen eine Perspektive bleibt über das Gefangenendasein hinaus. Der zweite Teil der Geschichte erzählt von den Vorbereitungen und dem Gelingen der Flucht. Auch hier, wie bei den „salomonischen“ Urteilen, spielt eine zweite Ebene eine entscheidende Rolle. Da dem Major und seinem Diener verboten ist, miteinander zu sprechen, kommunizieren sie über Musik. Die zum Gitarrenspiel gesungenen russischen Weisen erlauben, einen doppelten Text einzuschmuggeln, von dem die Tschetschenen nichts ahnen, weil sie die Sprache nicht verstehen. So wird aus einem Liebeslied eine konkrete Anweisung, anderen den Schädel einzuschlagen. Nach dem Lied folgt die grausame Tat, die Flucht gelingt, allerdings gesellt sich zur „Überlegenheit“ auch ein bisschen Glück, ohne das von dem Abenteuer auch nichts zu erzählen gewesen wäre. Die Überlegenheit des Europäers? Die ständige Erweiterung seines Schirms und die Bereitschaft, ihn einzusetzen, im Guten wie im Schlechten.<?xml:namespace prefix = o ns = "urn:schemas-microsoft-com:office:office" />

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Xavier de Maistre, Die Gefangenen im Kaukasus, in: Französische Erzähler von Chateaubriand bis France, Leipzig 1951 (Dieterich)